Die proletarischen Vergnügungen sind ausgestorben. Zumindest die meisten. Ich habe dieses Sterben in den vergangenen Jahren mit Bedauern zur Kenntnis genommen, obwohl mein dialektisch geschulter Verstand die Erklärungen schnell gefunden hatte. Wenn das Proletariat an sich ausstirbt, müssen mit ihm auch sämtliche klassenspezifischen Vergnügungen verschwinden, einschließlich die, eine historische Mission zu erfüllen und dabei Straßenfeste zu feiern. Das war die eine Erklärung und die andere: Wenn das Proletariat von genau der Gesellschaftsordnung abgeschafft wird, die es eigentlich - siehe historische Mission der Arbeiterklasse - durch Umsturz und Geduld beseitigen sollte, gibt es auch gar keinen Grund mehr zu feiern.
Und so reduziert sich alles a
alles auf nur wenige Happenings, von denen wiederum nur ganz wenige noch meinen Gefallen finden. Pferderennen mochte ich noch nie - das könnte sich allerdings ändern, wenn doch eine humanverträgliche Lösung für die Berliner Pferdestaffel gefunden wird, die jenseits der Sinclairschen Schlachthöfe liegt. Mit einem Picknickkorb, der Kartoffelsalat und Deutschländer Würstchen, hartgekochte Eier und Schultheiß-Bier enthält, ins Strandbad Wannsee zu fahren, finde ich schon eher gut. Ich vertrage allerdings Kartoffelsalat nur noch bei Temperaturen unter 25 Grad Celsius. Nicht zu reden von Schultheiß-Bier. Für Fußball interessiere ich mich weiterhin nur, wenn irgendwelche gut aussehenden italienischen oder französischen Mittelstürmer übers Feld jagen. Sie müssen aber einen Pferdeschwanz haben, sonst verstehe ich die Spielregeln nicht. Zirkus - wir wissen es - hat sich ob der Eintrittspreise selbst aus dem Angebotskatalog proletarischer Vergnügungen katapultiert, Biergärten werden inzwischen bevorzugt von Dinks (double income, no kids) frequentiert. Er trägt Hemden von respectman, sie kauft ihre Teilchen bei Kookai. Auf Flohmärkten treibt sich nicht etwa der schlecht verdienende Fensterputzer - gibt es den überhaupt? - mit seiner Kinderschar und der reizenden Gattin rum, sondern reizende Gattinnen von Männern der oberen Einkommensklasse, die sich noch mit vierzig überlegen, ob es sich lohnt, ein Kind anzuschaffen. Eigentlich bleibt nur noch das Sechs-Tage-Rennen. Und an dieser Stelle sei geschrieben: Das Sechs-Tage-Rennen ist mit Abstand das schönste, mit Sicherheit das lauteste und unter Garantie das schrillste proletarische Vergnügen der Postmoderne. Die Abstriche, die man machen muss, sind schnell aufgezählt und wiegen die Vorteile nicht auf. Ein kleines Schultheiß-Bier kostet inzwischen 2,60 Euro. Die Garderobe zehn Cent weniger. Die Einlasser sehen teilweise aus, wie die Bodyguards von Stoiber, auf den Mädchenklos hören die Wasserhähne von allein auf zu fließen und manchmal spielen sie in der Halle ein Lied von Roberto Blanco. Alles andere ist toll. Vor allem dann, wenn die Radfahrer fürs Volk und ein bisschen auch fürs Geld Kunststücke zeigen und Theater machen. Wer will, bekommt eine Trillerpfeife, wer kann, drückt das Kreuz bei der Laola-Welle durch und hört, wie es knackt und fühlt sich eins mit der Menschenmasse, die nicht mehr in Klassen, sondern nur noch in unterschiedliche Betrunkenheitsgrade aufgeteilt werden kann. Bei der Siegerehrung wird der Preis vom stellvertretenden Verkaufsleiter der OBI-Filiale Neukölln oder vom Spitzenverkäufer des Autohauses Pankow vergeben. Und der Preis ist ein Scheck, keine Trophäe aus Plexiglas, von der man nicht weiß, ob sie vorher vielleicht in der forensischen Pathologie zur Untersuchung von Gewebeproben verwandt worden ist. Beim diesjährigen 91. Sechs-Tage-Rennen sang Chris Norman, dessen Band nicht mehr Smokie heißt, aber Living next door to Alice spielte. Die Feuerzeuge gingen gar nicht mehr aus und der ganze Saal brüllte einvernehmlich "who the fuck is Alice". Ich war ja mal in Chris Norman verliebt und konnte gar nicht glauben, dass ausgerechnet er einmal für fünf Minuten die Lücke schließen würde, die die fehlgeschlagene historische Mission gerissen hatte. Am schönsten sind natürlich die Beine der Sportler. Solche Beine sieht man im Strandbad Wannsee nicht. Und wenn diese Männer mit den tollen Beinen dann auf ihren Rädern einen Stehversuch wagen, der länger als drei Minuten dauert, wenn man auf der großen Leinwand sehen kann, wie die Muskeln spielen, die kleinen Seufzer der nicht mehr ganz jungen Frauen mit blond gefärbten Haaren und pinkfarbenem Lippenstift hört, wenn man nur noch einen einzigen Wunsch verspürt: Jetzt da unten sein und mal anfassen dürfen. Dann ist das der Moment, wo das Klassenbewusstsein endgültig flöten geht und der reinen Begierde Platz macht. Die meisten proletarischen Führer müssen das gewusst haben. Deshalb fanden sie Frauen auch immer so unzuverlässig und schlecht geeignet für die Revolution.