Feige

Rot-grüne Inkonsequenz Zu einer schutzlosen Unterschicht gehört eine parasitäre Oberschicht

Millionen nach Amerika zu verschiffen, wie vor 120 Jahren, geht nicht mehr. Millionen in den Krieg zu schicken, wie vor 60 Jahren, ist bei kapitalintensiver Kriegsführung auch keine echte Option. So bleibt offenbar nur die eine Chance: die Überzähligen müssen so willig und billig werden, dass Kuponschneider und Gutverdiener massenhaft auf Dienstpersonal zurückgreifen. Gärtner und Chauffeure, persönliche Sekretäre für die trockene Korrespondenz und Hostessen für die feuchten Vergnügen - jeder gut situierte Haushalt muss seine Arbeitgeberpflichten wahrnehmen. Selbstverständlich sind auch kollektive Varianten denkbar: Wohnparks für Betuchte mit eigener Wach- und Servicegesellschaft, wie es sie in den USA längst gibt.

Mit seinem Wutausbruch gegen alle Müßiggänger hat Wolfgang Clement die Richtung vorgegeben, dabei aber leider die Nachfrageseite völlig vergessen. Denn auch das deutsche Bürgertum sollte seine Schamgrenzen überwinden, seine Konsumgewohnheiten umstellen. Eine Luxuslimousine selbst zu fahren, wäre beispielsweise als das zu brandmarken, was es ist: ein beschäftigungspolitischer Skandal. Sonderbarerweise passiert an dieser zweiten Front fast nichts. Kein Schröder, der die Sekundanten seiner Frau präsentiert. Kein Clement, der die hohe Sparquote der Rentiers geißelt. Kein Gerster, der mit handfesten Zahlen die offenen Stellen hinter deutschen Gardinen summiert. Warum fordern FAZ und Christiansen keine tiefgreifenden Reformen des traditionellen Nachfrageverhaltens? Die Entschlackung des Sozialstaats, also die Preisbereinigung auf der Angebotsseite, ist doch längst zum Selbstläufer geworden, um den sie sich nicht weiter kümmern müssen. Gebot der Stunde wäre die Enttabuisierung des wohlverdienten Luxuskonsums, das freie Bekenntnis zu all den Helfern, die ein hochproduktiver Mensch benötigt, wenn er sich ganz auf seine Funktion in der Gesellschaft konzentrieren will. Statt ihre Einkommen und Vermögen offen zu legen, statt die Beschäftigungsintensität ihrer Verwendung selbstbewusst nachzuweisen, herrscht betretenes Schweigen. Kein unbefangenes Lob der Verschwendung und jener unentbehrlichen Tätigkeiten, die man früher völlig unpassend Knechtschaft nannte.

So wird der große Kraftakt von SPD und Grünen wohl verpuffen und doch wieder nur der linke Verdacht bleiben, dass die Hartz-Gesetze, die Agenda 2010 und der Beschluss zur faktischen Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, den das Kabinett in der kommenden Woche fassen will, mit Beschäftigungspolitik nichts zu tun haben. Denn Glaubwürdigkeit könnten all diese Reformen nur beanspruchen, wenn der Kanzler und die sozialpolitischen Müllsortierer, die ihm machterhaltend zur Seite stehen, bereit wären, ihren Zynismus auf die Spitze zu treiben: Wir präsentieren Euch, ob in der Neuen Mitte oder im alten Establishment, die Reservearmee hand- und mundgerecht, aber bitte, jetzt müsst Ihr auch zugreifen.

Den Mut, das auszusprechen, haben sie freilich nicht. Vielleicht fehlt ihnen auch die simple Erkenntnis, dass zu einer schutzlosen Unterschicht eine parasitäre Oberschicht gehört. Der absurde Zirkel permanenter "Sozialreformen" wird deshalb zwangsläufig seine Fortsetzung finden, weil die Nutznießer gekappter Masseneinkommen und gestrichener Transferleistungen ihr Konto pflegen, statt sich auf ihre höfische Pflicht zu besinnen. Während die Amerikaner seit Jahrzehnten wissen, dass Neoliberalismus und Neofeudalismus zwei Seiten einer Medaille sind und nur zusammen das Schiff auf Kurs halten können, werden auf der deutschen Titanic die Mannschaftsdecks geplündert und die Kronleuchter vergessen. Mit Schlagseite auf den Eisberg zu treffen, wäre jedoch eine jämmerliche Vorstellung. Um so dringlicher wäre der andere Kurs, der unter dem Stichwort Bürgerversicherung kurz aufschien.

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