A–Z Wie so vieles im Leben hat auch der Mut eine Nachtseite: Sich nicht trauen, wegschauen, stumm mitlaufen oder, oft aus guten Gründen, desertieren: unser Wochenlexikon
Älterwerden Es ist ein Kreuz mit dem Älterwerden. Einerseits haben wir eine immer höhere Lebenserwartung und wissen genau, was uns guttut. Mit jedem Lebensjahr werden wir etwas vernünftiger, ernähren uns vollwertig und stellen sukzessive die Laster ein. Sex haben wir, um das Immunsystem zu stärken – eh klar.
Proportional wächst aber auch unsere Feigheit. Viele haben höllische Angst vor dem Altern. Frauen lassen sich ihre Geschlechtsorgane straffen, Männer sich Haarbüschel verpflanzen. Sollten wir nicht mit jedem Jahr ein wenig entspannter in den Spiegel blicken, mit Selbstvertrauen über jede Lachfalte schmunzeln und uns gern daran erinnern, wie sie zustande gekommen ist? Sophia Hoffmann
Argentinien Der Río Matanza-Riachuelo g
phia HoffmannArgentinien Der Río Matanza-Riachuelo gehört zu den am stärksten verseuchten Gebieten der Welt. An seinen Ufern südlich von Buenos Aires sind offiziell 4.000 Industriebetriebe angesiedelt, inoffiziell dreimal so viele. Ihre Abfallstoffe gelangen direkt ins Abwasser und das strömt ungeklärt in den Fluss. Das macht die Menschen, die entlang des Flusses leben, krank. Etwas an der Verschmutzung ändern – dazu ist die Regierung zu feige. Sie will es sich wohl nicht mit den Konzernen verscherzen, obwohl inzwischen sogar juristisch gegen ihre Feigheit vorgegangen wird. So wurde eine ehemalige Umweltministerin verurteilt, weil sie einen Kredit der Weltbank nicht wie vorgesehen für die Säuberung des Riachuelo verwendete. Der Oberste Gerichtshof setzte dann eine überregionale Aufsichtsbehörde (ACUMAR) ein, die sich um die Umweltproblematik kümmern sollte. Doch auch das half nichts: Die Offiziellen drückten sich weiter um ihre Verantwortung. Ein Bürgermeister gab sogar lieber sein Amt auf, als zur Flussreinigung beizutragen. Die Feigheit war weiterhin groß, der Fortschritt langsam. Deswegen wurde das ACUMAR-Personal 2011 von der Nationalregierung ausgetauscht. Katharina FinkeCCleverness Anlässe für feiges Verhalten gibt es viele. Und selten sind die Erklärungen, die dafür vorgebracht werden, ehrlich. Oft wird dann angebliche Cleverness ins Feld geführt: Es sei eben, so verteidigt man sich gern vor sich selbst und anderen, einfach klüger und vernünftiger gewesen, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Ein Argument, das schlau klingen mag – allerdings nur auf den ersten Blick. Eindeutig mutiger, letztlich eben beeindruckender wäre es, einfach zuzugeben: „Tja, ich habe mich nicht getraut.“ Benjamin KnödlerDDeserteure „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben.“ Adolf Hitler hatte eine klare Vorstellung, und die Militärrichter der Wehrmacht folgten ihm oft. Mindestens 35.000 Fahnenflüchtige wurden verurteilt, ungefähr zwei Drittel zum Tode. Doch auch nach 1945 haftete den Überlebenden der Makel des Verräters an. Erst im Jahr 2002 beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile und zur Entschädigung der Deserteure oder ihrer Angehörigen. Und heute? Wird Fahnenflucht in Deutschland mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. In jedem normalen Arbeitsvertrag wäre so was undenkbar. Nach Auskunft des Vereins Connection ist es in vielen westlichen Staaten ähnlich; in anderen Ländern gibt es auch härtere Strafen bis hin zur Todesstrafe, die etwa die USA im Kriegsfall verhängen können. In der Türkei werden Kriegsdienstverweigerer nach abgesessener Haftstrafe erneut einberufen – und erneut verurteilt. Ob Soldaten oder Deserteure mutiger sind, ist schwer zu sagen. Es geht aber nicht nur um Mut, sondern um eine vernünftige Entscheidung. Felix WerdermannEElite Stehen eigentlich nur Angsthasen an den Spitzen der Konzerne? Leute, die das Geld zusammenhalten und sich nicht an riskante Investitionen trauen? Nein, wer zur Wirtschaftselite gehören möchte, muss sich etwas trauen, darf nicht feige sein. Das schreibt der Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann. Risikobereitschaft sei eine von vier ausschlaggebenden Persönlichkeitseigenschaften für den Aufstieg. „Auf eine optimistische Grundhaltung und Risikobereitschaft wird viel Wert gelegt, weil sie als Indiz für unternehmerisches Denken gelten.“ Das sei „die verbreitete Einstellung unter Managern“. Sind die Chefs aber wirklich mutig? Häufig kommen sie aus reichen Familien, aus finanziell sehr sicheren Verhältnissen. Damit dürfte es ihnen relativ leicht fallen, größere Summen aufs Spiel zu setzen. Zu den wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen gehöre neben der Risikobereitschaft auch noch die Allgemeinbildung und die Beherrschung ungeschriebener Verhaltensregeln. Felix WerdermannFFrauen Wenn es ernst wird mit der Emanzipation, verschanzen sie sich in der Küche und hinterm Kinderwagen. Stoßen sie an die gläserne Decke, ziehen sie den Kopf ein, statt sie mit dem Gewehrkolben zu durchstoßen. Frauen sind selbst Teil des Problems, das sie zu lösen trachten. Mit solchen Gattungsurteilen ist auf dem Buchmarkt gut zu punkten – und Bascha Mika, frühere taz-Chefin und fraglos Karrierefrau, scheute sich nicht, 2011 über Frauen, die es aus (angeblicher) Feigheit nicht schafften, ihre „Potenziale“ auszuschöpfen, zu richten. Die Feigheit der Frauen hieß das Werk. 2014 beschäftigte Mika sich in Mutprobe. Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden dann auch mit den eigenen Feigheitsanteilen. Ulrike BaureithelHHemd „Mach dir doch nicht ins Hemd!“ Ausdrücke für (vermeintliche) Feigheit sind Legion. Klemmi und Drückeberger, Hosenscheißer, Schisser und Waschlappen zählen zu den bekannteren Synonymen für den Feigling. Hasenherz, Hasenfuß und Angsthase zeigen eine auffällige Koppelung mit dem hoppelnden Tier. Woher die rührt? Nicht immer galt der Hase als Symbol der Angst, sonst wäre er kaum im Mittelalter als Wappentier gebraucht worden. Der „Hasenfuß“ erklärt sich wohl eher daraus, dass jemand aus Angst so schnell davonrennt wie ein Hase. Immerhin ist der Hase als Beute vieler Fressfeinde zum Überleben aufs Hakenschlagen angewiesen. „Angsthase“ hat sich laut etymologischem Wörterbuch mit einiger Sicherheit aus „Angsthose“, auch „Bangbüxe“, ergeben. Gelegentlich zeigt sich Angst ja als Ausscheidung in der Hose. Hiervon mag auch „Mach dir nicht ins Hemd“ stammen. Immerhin bezeichnete das Hemd früher einmal Bekleidung ganz generell. Tobias PrüwerIInternet Anonym zu lästern ist einfach. Im Internet bezeichnet man dieses feige Verhalten als trolling. Menschen überschreiten die Grenzen des Anstands und Geschmacks, dank verschleierter Persönlichkeit. Ein Unbill, das Opfer im Extremfall bis in den Selbstmord treiben kann. Es gibt vielfache Reaktionen auf dieses Verhalten, Präzedenzfälle, etwa Anzeigen gegen Facebook-User, die den österreichischen Außenminister Sebastian Kurz gebasht haben. Oder die Aktion des US-Talkmasters Jimmy Kimmel: Er lässt Stars Tweets verlesen, die gegen sie gerichtet sind – die Verfasser werden so der Lächerlichkeit preisgegeben. Apps wie Tinder sorgen wiederum dafür, dass man recht unmutig Kontakt mit potenziellen Sexualpartnern aufnehmen kann. Ein feiger Supermarkt der Eitelkeiten! Sophia HoffmannKKonfuzius Für den Philosophen Konfuzius verkörperte der „Edle“ (jūnzĭ) das Idealbild des Menschen. Neben Moralität, Intellektualität und Harmonie zählte für ihn auch Tapferkeit zu den entscheidenden Tugenden. Konfuzius schrieb: „Das Rechte sehen und nicht tun, ist Feigheit.“ Dieser Spruch stammt aus einem der einflussreichsten Werke der ostasiatischen Geistesgeschichte, dem Lunyu. Es ist eine der vielen Sammlungen von Zitaten, für die Konfuzius weltweit bekannt ist. So widersprüchlich einige seiner Anekdoten sich lesen, so widersprüchlich sind auch die Interpretationen seiner Texte. Heute gilt er vor allem als Schutzheiliger für Biedermänner, die er seinerzeit doch so stark kritisiert und verurteilt hatte – und das ausgerechnet aufgrund deren kritikloser Feigheit. Katharina FinkeMMitläufer Der Mitläufer nimmt ohne Überzeugung an einer politischen Bewegung teil – oder verhält sich einer Ideologie entsprechend, die er gar nicht vertritt. Er tut das aus Opportunismus, um nicht aufzufallen. Oder eben schlichtweg aus Feigheit. Hier wird oft der klassische Gruppenzwang, in der Soziologie auch peer group pressure genannt, wirksam. In den Entnazifizierungsverfahren nach 1945 bildeten die „Mitläufer“ die vierte von fünf Täterkategorien: Demnach waren sie nicht aktiv am NS-Verbrechen beteiligt – aber sie leisteten eben auch keinen aktiven Widerstand. Aber das „Dritte Reich“ war keineswegs ein bloßer Mitläuferstaat. Vielerorts beteiligten sich Menschen ohne Zwang an Pogromen. Tobias PrüwerSSaufen Seit 1992 ist der Kleine Feigling aus Bierzelten, von Klassenfahrten und Saufrunden nicht mehr wegzudenken. Schnell hat sich der 20-prozentige Likör aus Wodka und Feigenaroma in Flaschen mit Kulleraugen zu einer Marke mit eigenen Gebrauchsritualen entwickelt. Dazu gehört das gemeinschaftliche Klopfen mit dem Deckel auf den Tisch. Der soziale Druck ist bei Trinkritualen ohnehin immens. „Einen mittrinken“ ist eine scheinbar harmlose Einladung, der – will man nicht als feige gelten – man sich oft nur mühsam entziehen kann. TPSokrates In einer Kalendergeschichte erzählt Bert Brecht, wie Sokrates einmal eine Schlacht entscheidet, obwohl er zunächst feige davonrennt. Dabei tritt er sich eine Dorne in den Fuß, kann nicht mehr laufen und beginnt, als die Perser nahen, wild um sich zu schreien. Im Nebel halten die Feinde den Angriffswillen der Athener daher für ungebrochen – und ergreifen selbst die Flucht. Sokrates wird als mutiger Frontkämpfer gefeiert und lässt es geschehen. Feige, so zeigt Brecht, ist Sokrates erst in dem Moment nicht mehr, in dem er die Wahrheit erzählt. Es braucht Mut, kein Held zu sein. Jan PfaffZZivilcourage Es kommt vor, dass der Mensch mit Extremsituationen zu tun hat, man denke etwa an Schlägereien in der U-Bahn oder Angriffe auf Schwächere. Da wäre großer Mut gefragt. Die junge Offenbacherin Tuğçe Albayrak hatte diesen Mut – und bezahlte ihn mit ihrem Leben. Viele Menschen unternehmen in solchen Momenten aber nichts, oft wohl auch, weil sie einfach Angst haben. Muss man da, recht martialisch dröhnend, immer gleich von Feigheit sprechen? Mit Recht werden Menschen, die eingreifen, um anderen zu helfen, für ihren überdurchschnittlichen Mut geehrt. Aber die Forderungen nach „mehr Zivilcourage“ haben oft einen unangenehmen moralischen Unterton, der auch befremden kann. Ja, es wäre gut, wenn mehr Courage im Alltag gezeigt würde. Erzwingen kann man das aber nicht. Benjamin Knödler
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