„Ich erinnere mich noch“: Felix Heidenreichs Erinnerungsprosa ist große Literatur
Kritik Eine erinnerungsfähige Stimme, die niemals sentimental wird: Felix Heidenreichs Romandebüt „Ich erinnere mich noch“ verdient große Aufmerksamkeit
Große Literatur: „Ich erinnere mich noch“ von Felix Heidenreich ist kein bisschen sentimental
Foto: Imago/Sven Simon
In Felix Heidenreichs Romandebüt lautet der erste Satz: „Ich erinnere mich noch, dass es ein nasskalter Septembermorgen im Jahre 1985 war, als ich vor die Tür trat und mit meinem Rucksack beladen den Weg hinunter ins Tal einschlug.“ Es ist ein perfekter Auftakt für die Geschichte, die nun folgt, und der perfekte Beginn eines Debütromans, den der Stuttgarter Philosoph und Politikwissenschaftler Felix Heidenreich hier vorgelegt hat. Es ist ja immer ein Wagnis, wenn Menschen aus dem akademischen Betrieb sich literarisch äußern. Man denke nur an die zahlreichen Professorenromane des 19. Jahrhunderts. Professoren schreiben Romane, um ihr Fach zu promoten oder sich an medialen Trends, wie zum Beispiel dem des historischen Romans, zu beteiligen. Auch der
er Emerituskrimi oder Universitätsromane aus der Feder pensionierter Professoren erfreuen sich großer Beliebtheit.Jedoch, eine solch erinnerungsfähige Stimme, die niemals sentimental wird, hat man seit Uwe Timm nicht mehr gehört. „Erinnerung führt ins Innere“, heißt es in Timms Am Beispiel meines Bruders. Erinnerung konfrontiert uns also mit Wünschen, Vorstellung, sie konfrontiert uns mit uns selbst. Es geht ja bei der Erinnerung nicht allein um Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern um ihre Neugestaltung oder -erfindung. Erinnerung ist also immer beides: Identitätssuche und Identitätsfindung. Es ist daher nur konsequent, dass der Roman auch den Titel Ich erinnere mich noch trägt. Er ist programmatisch und poetologisch. Programmatisch, weil Heidenreichs Text uns sehen lässt, dass biografische Erinnerung uns deutlich macht, wie wir geworden sind, der/die wir im Moment des Erinnerns sind, aber auch, wer wir hätten sein können. Poetologisch, weil der Roman mit diesem Titel über seine Faktur, also das Gemachtsein der erzählten Welt, Auskunft gibt. Erinnerung ist somit immer Bewältigung von biografischer Kontingenz und Herstellung einer Vergangenheit, die zur Gegenwart des Erinnernden passt. Erinnerung produziert, heißt es im Roman, ein „Gefühl des Möglichen“.Wer aber ist dieses erinnernde Ich? An was erinnert es sich? Der/die Leser*in lernt dieses Ich, das im Roman den Namen Dorela trägt, in drei biografischen Phasen kennen. Passend zum Start des Wintersemesters jetzt als junge Lehramtsstudentin im westschweizerischen Fribourg im Wintersemester 1985/86, etwa fünfzehn Jahre später als arrivierte und in kleinfamiliären Verhältnissen lebende Lehrerin (also etwa Ende der 1990er Jahre) in Graubünden und nochmals fünfzehn Jahre später als Frau Mitte fünfzig, die mit ihrer nun erwachsenen Tochter eine alte Freundin aus ihrer Fribourger Wohngemeinschaft in New York besucht.Als roter Faden der Erinnerung dienen hauptsächlich zwei Figuren oder zwei Ereignisse: Da wäre zum einen der verschwundene Schwarm aus Studienzeiten, Antoine, dem sie am Ende des Romans wiederbegegnet. Ihre Beziehung wiederum ist durch zwei Literaten geprägt, zum einen Stendhal, den Antoine abgrundtief hasst, und Camus, den er verehrt. Für die Lektüre im wehmütigen Rückblick auf den Sommer dieses Jahres ist die Erinnerung an den Ausflug mit Antoine zum Grab des französischen Großschriftstellers in die Provence besonders schön: „Ja, wenn ich mich jetzt erinnere, so denke ich, dass diese Tage in Lourmarin die glücklichsten in meinem Leben waren, dass wir beide damals an einem Ort außerhalb der Zeit waren.“Zum Zweiten ist Dorelas Onkel Durs zu nennen, der ganz zu Beginn des Romans während seiner Tätigkeit als Schweizer Konsulatsangestellter in Berlin verschwunden ist und schließlich tot am Ufer des Bodensees in Bregenz gefunden wird. Dorela und ihre Mutter fahren ins Berlin der 1980er Jahre. Heidenreich gelingen hier atmosphärisch sehr dichte Beschreibungen des Berlins der damaligen Zeit: „Vor meinen Augen sehe ich die mit Graffiti und politischen Parolen besprühten Häuserwände, an denen triste Gestalten entlanggingen, langhaarige Linksalternative, Rocker mit befransten Lederkutten, arme Malocher und vereinsamte Rentner auf dem Weg zum Frühstücksbier. Überall sah man schäbige Kneipen mit skurrilen Namen, die damals selbst in Charlottenburg das Stadtbild prägten.“Heidenreich vermag es, seiner Erinnerungsprosa immer wieder ein zeitgeschichtliches Dekor zu geben. So gelingt ihm mit der Indianerobsession der Figur Durs ein wohl eher zufälliger Kommentar der unmittelbaren Gegenwart. Man könnte es anders deuten: Gegenwartsliteratur wird dann aktuell, wenn sie, ob gewollt oder nicht, Gegenwartsdebatten antizipiert oder befeuert. Die sogenannte Winnetoudebatte ist ja in jedem Falle ein höchst gegenwärtiger Diskurs. Durs’ „Wunsch, Indianer zu werden“, ist einerseits ein deutlicher Hinweis auf Kafkas kurzes Stück mit demselben Titel, in dem Kafka eigentlich von der Unmöglichkeit erzählt, Indianer werden zu können. „Wenn man doch Indianer wäre“, heißt es bei Kafka, „gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft“. Das ist der Wunsch des Erzählers. Er erweist sich als Unmöglichkeit der Befreiung, als projektive Vorstellung, als Wunschdenken. Die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, nach dem also, was die Gegenwart verweigert, löst sich buchstäblich auf.Sehnsucht und AufbruchAndererseits ist die indigene Kultur, die viele Reisende oder Lesende in touristischer, missionarischer oder kulturanthropologischer Absicht kennengelernt haben, eine veritable Obsession und eine, wie David Graeber und David Wengrow in Anfänge (Klett-Cotta 2022) gezeigt haben, bisher kaum beachtete Quelle aufklärerischer Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Dasselbe 18. Jahrhundert, das als Epoche der Aufklärung einen zementierten Platz in geistesgeschichtlichen Periodisierungen aus innereuropäischer Perspektive einnimmt, kann man nun nicht mehr von seinem vermeintlichen europäischen Zentrum aus betrachten, sondern von der Peripherie aus. Das immer wieder zu hörende Argument, dass nur auf der Grundlage christlicher Traditionen Aufklärung, Toleranz und Säkularisierung stattfinden konnten, erweist sich mit Graeber und Wengrow als verschwiegene Auseinandersetzung mit den indigenen Kulturen, vor allem mit denen nordamerikanischer Provenienz.Heidenreichs Roman ist ein Stimmungsroman, der seine Figuren mit einer wunderschönen erzählerischen Zartheit behandelt. Sehnsucht und Melancholie, Nostalgie und Aufbruch prägen die erzählerische Ökonomie dieses beachtlichen literarischen Debüts. Die Gegenwartsliteratur ist um eine Stimme reicher geworden.Placeholder infobox-1
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