Fernsehen am Piz Badile

Am Fuße des Piz Badile in den Veltliner Alpen liegt Filorera, ein Dorf, aber genauso gut kann man sagen, ein Altenheim. Viele Alte sommerfrischen ...

Am Fuße des Piz Badile in den Veltliner Alpen liegt Filorera, ein Dorf, aber genauso gut kann man sagen, ein Altenheim. Viele Alte sommerfrischen hier. Sie kommen aus Florenz und Rom. Sie kommen seit Jahren. Die Rüstigen unter ihnen wohnen in der Albergo Reno, der einzigen Herberge. Morgens nehmen sie Milchkaffee und Zwieback zu sich, den Tag über observieren sie die Dorfstraße und abends sehen sie fern.

Nur ungern verlässt die Wirtin in der Albergo Reno während des Frühstücks den Speiseraum. Tut sie es doch, klauben etliche Alte rasch Zwieback in ihre Taschen. Übrigens wäre es der Wirtin nicht um die paar Packungen Trockenkeks schade. Es sind die Brösel, die stören. Überall liegen sie hinterher herum. Zwiebackkrümel in Bettritzen, Nachttischschubladen und Schrankecken.

Wer nicht mehr gut allein zurecht kommt, wohnt im Hotel Cacciatore, dem einzigen Hotel, von dem man aber genauso gut sagen kann, dass es ein Sanatorium ist. Hier gibt es Vollpension, Rollstühle und Hilfe beim Waschen und Anziehen.

Zu Mittag essen alle in der Osteria Il Volto, dem einzigen Restaurant, oder im Hotel Cacciatore. Hier wird mittags eine 92-jährige Römerin in den Speisesaal geschoben. Wenn sich niemand mit ihr befasst, sitzt sie unbeweglich da, den Kopf gesenkt. Nur wer genauer hinsieht, bemerkt, dass sie ab und an den Blick erhebt. Die jungen Filorerer sind längst nach Mailand, Como und Bologna gezogen, um etwas auf die Beine zu stellen. Selbst die Betreiber der Osteria Il Volto sind alt. Pizza backen sie nur widerwillig. Pizzoccheri, Buchweizenpasta à la Valtelina, dagegen um so lieber. Mal mit Bohnen, mal mit Wirsing, mal mit Kartoffeln.

Von allen Plätzen in der Osteria aus kann man den Fernseher sehen. Er steht auf einem Regalbrett über der Küchentür und läuft immer. Außerdem hat man von der Osteria aus einen wunderbaren Blick auf die Nordwand des Piz Badile. Hier findet sich - trotz Standhaken und Ketten - einer der schwierigsten Kletterpfade der Alpen. Die Region ist von Steinlawinen bedroht. Fast täglich hört man Steine und Geröll rutschen. Sobald das Grollen hörbar wird, kommt Leben in die Alten. Sie nehmen ihre Fernrohre zur Hand. Die Kletterer sind als kleine rote oder blaue Punkte zu sehen. Unendlich langsam rücken sie vorwärts. Lange Zeit bleiben sie unbeweglich, und dann sind sie plötzlich doch ein Stück weiter gekommen. Wie Salamander, meint einer. Als würde man Bäumen beim Wachsen zuschauen, ein anderer. Meist beobachten die Alten schweigend.

Samstags wird gebadet in Filorera und am Sonntag schlängelt sich ein Auto-Corso mit Ausflüglern den Berg zum Dorf hinauf. Dann sprechen die Alten über Nummernschilder, Parkplätze und ihre Kinder.

Am Abend sitzt die 92-jährige Römerin immer noch im Speisesaal des Cacciatore. Ganz zusammengesunken hockt sie in ihrem Rollstuhl und rührt sich nicht. Bis, als man sie schon für tot hält, sie plötzlich ihre Stoffserviette ergreift und mit aller Wucht eine Fliege totschlägt.

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