Großeneder. Hinter dem Ortschild nur auf der linken Seite Siedlungshäuser, rechts Acker, eine Scheune, Stoppelfeld. Unter dem einzigen Baum am Ackersaum Christus am Kreuz und eine Bank, von der man über die mähstaubbelastete Weite schauen kann.
Vor der Dreifachgarage eines der wohlausgestatteten Häuser am Ortsrand treffen sich die, die gemeinsam die Kräuter sammeln wollen. Es ist der 14. August, der letzte Tag vor »Maria Himmelfahrt«, dem Kirchenfest, das auf die vorchristliche Tradition der »Krautweihe«, »Kroutwigge«, aufgesetzt wurde. »Seit vierzig Jahren wurde in Großeneder kein Krautbund mehr gebunden,« behauptet Bernhard Michels. Der Sohn eines Landwirts arbeitet heute als Krankenpfleger. Er kann sich nicht erin
nicht erinnern, das je erlebt zu haben. »Nein,« widerspricht die 66jähriger Anne Schäfers, klein von Wuchs, doch groß an Wissen und Engagement. Bis 1994 - da wurde sie als Lehrerin an der Grund- und Hauptschule Großeneder pensioniert - habe sie mit ihren Schulkindern immer die Kräuter gesammelt. Das magische KrautbundWie lange die Tradition unterbrochen sein mag, sie wiederzubeleben, ist eine Anstrengung, zu der sich die Nachbarn Bernhard Michels und Wilfried Thiele zusammengetan haben. Wilfried Thiele ist Vorsitzender des neu gegründeten Heimatvereins. »Es geht um die Gemeinschaft! 902 Einwohner hat Großeneder und 1001 Hektar landwirtschaftlich genutzte Fläche. Das ist fruchtbarster Boden hier, aber unser Reichtum und unsere Beständigkeit sind gefährdet.«Auf dem Esstisch der Thieles steht das Laptop aufgeklappt, im Wohnzimmer locken tiefe Ledersessel.Wilfried Thiele war Ingenieur der Telekom. Heute ist der 57jährige pensioniert und kann ein bisschen Zeit investieren. Er hat über die Zeitung informiert und zehn der 16 Vereine Dorf angeschrieben. Die Katholische Frauengemeinschaft, die Kolpingbrüder, der Schützenverein, der Gemischte Chor, der Tennis-, der Angel-, der Musikverein - alle sind eingeladen zum Kräutersammeln.Dem Krautbund, oft unter Haustüren oder im Stall aufgehängt, wurde früher magische Wirkung zugeschrieben, er sollte Unwetter abhalten, kranke Tiere heilen können. Bis zum Beginn der sechziger Jahre waren es die Kinder, die die heilige Aufgabe des Kräutersammelns wahrnahmen. Man musste die Standorte kennen, wo »Knäpe« (Reinfarn) oder »Foljanspeipen« (Baldrian) wuchsen. Uns werden sie heute gezeigt. Bernhard Michels lädt die alte Lehrerin, ihre Schwester, die Journalistin und andere Neugierige ins Auto ein. Wilfried Thiele führt eine Gruppe auf Rädern an.»Alant und Osterluzei gab es nur in den Gärten, damit konnte man tauschen. Es gab ja richtige Tauschbörsen, damals.« Das Gespräch ist lebhaft unter den Kräutersuchenden. »27 Pflanzen müssen es sein und Kornähren gehören in dieser Gegend dazu.« Bernhard Michels hat sich das alte Wissen mühsam erarbeiten müssen. »Dreißig Stunden Recherche - zum Teil im Internet!« Die pensionierte Lehrerin vermisst die Golddistel in seiner Aufstellung. »Man findet nicht mehr alle Kräuter, das ist eine Agrarwüste hier.« Mit dem Naturkundeverein hat Bernhard Michels die schmalen Ackersäume, die Reststreifen zwischen geteerten Feldwegen und kanalartig geführtem Bach schon zu beleben versucht. »Wir freuen uns daran, unser Dorf lebenswert zu erhalten, aber - man muss was tun. Die Gemeinschaftlichkeit droht zu kippen. Im letzten Jahr wollte niemand mehr Schützenkönig werden und vor fünf Jahren hatten wir auch schon keinen.«Mit vor der Landpartie sind Wissenschaftlerinnen des Instituts für Theorie und Praxis der Subsistenz, die in der Warburger Börde nach »Ansätzen regionalen Wirtschaftens in der ländlichen Gesellschaft« suchen. Veronika Bennholdt-Thomsen, Brigitte Holzer und Andrea Baier bearbeiten eines von 15 Modellprojekten, die vom Bundesforschungsministerium mit 15 Millionen Mark gefördert, in unterschiedlichsten Feldern überprüfen, ob regionales Wirtschaften ein Schritt zu größerer Nachhaltigkeit sein könnte. »Unser Nachdenken über die Entglobalisierung der Märkte durch deren Regionalisierung bewegt sich nicht auf der Ebene der Politik von oben, sondern auf der Ebene des Alltagshandelns, auf der Ebene der Kultur und der Werte, die die Entscheidungen und das Verhalten der wirtschaftlich Handelnden prägen«, meldet sich auch die Projektleiterin Veronika Bennholdt-Thomsen zu Wort. Wilfried Thiele ist erstaunt. »Kräuterhexen« hatte er anerkennend die beiden getauft, die mit ihm gesammelt hatten. Sie hatten die »Fetthenne«, das »Dunerkrout«, erkannt, das er übersehen hatte.Beziehungen erhaltenDer Promovierten und der Habilitierten war das nicht unrecht. Sie sind absichtlich in diese Gegend gezogen, weil sie nur aus der Nähe sehen können, worauf es ihnen ankommt. Die Soziologinnen verfolgen einen »konsequent sozial-ökologischen Ansatz«. Veronika Bennholdt-Thomsen sieht latente Gewalt in den Strukturen der globalisierten Wirtschaft. »Sie ist schon darin angelegt, dass die Menschen nicht mehr aufeinander verpflichtet sind. In dem Maße, in dem der konkrete Nutzen, das Notwendige, als Motiv des wirtschaftlichen Austausches verschwindet und stattdessen das Geld, das Abstrakte, das Anonyme in den Vordergrund rückt, in dem Maß verschwindet auch die Konkretheit der Beziehungen überhaupt.«Ein Schützenfest zum Beispiel ist ökonomisches Handeln und Beziehungspflege in einem. Da hat die Schneiderin schon Geld auf die hohe Kante gelegt, weil sie dem Hofstaat neue Roben anpassen konnte. Da verdient der Metzger, der die Würstchen, und der Bäcker, der die Brötchen liefert, und im nächsten Jahr der andere Metzger und der andere Bäcker aus dem Dorf. Man wird es sich nicht miteinander verderben. Und der Profit bleibt in der Region. Das Bier, das zweifelsohne in Strömen fließt, ist Bier aus der nahen Warburger Brauerei.Und jetzt will in Großeneder keiner mehr die Finanzierung und den Stress einer Schützenregentschaft auf sich nehmen! »Die Beziehungen müssen re-ökonomisiert werden,« ist die Meinung Veronika Bennholdt-Thomsens, »aber dazu müssen sie erst einmal erhalten bleiben.« Deshalb werden die Forscherinnen die Vorsitzenden des Heimatvereins und des Naturkundevereins, die sie jetzt eher zufällig kennen gelernt haben, wiedertreffen wollen. Das Noch-Erhaltene zu betonen, ist ihre Methode. Dazu planen sie erstens eine Ausstellung. Die Menschen in der Warburger Börde können sich dann sozusagen im Spiegel sehen,. Die Forscherinnen werden zweitens ein Buch schreiben, Geschichten erzählen, zum Beispiel die vom Wecken zum Schützenfest. Da sitzt der Musikverein auf dem geschmückten Anhänger, wird vom Traktor zu den Regenten, den Jubelpaaren, dem Pastor, dem Hofstaat gefahren, bläst ein Ständchen und erhält als Dankeschön eine hausgeschlachtete Mettwurst. »Die Mettwurst ist so etwas wie das Geld von Borgentreich,« hat Veronika Bennholdt-Thomsen da gehört und gefolgert: »Mit solch einem Geld wäre auch Arbeit etwas anderes, nämlich das, was wir alltäglich tun, um ein gutes Leben zu führen.« Drittens und zuallererst mischen sich die Forscherinnen ins Gespräch: »Ein Netz knüpfen, einen anderen Diskurs etablieren, als den, der sich am rational-ökonomischen Wirtschaftsbegriff orientiert.«Es gibt beide Sichtweisen in der Warburger Börde. Es gibt die Bauern die sagen, »wir arbeiten zehn Stunden am Tag, dann wollen wir auch einen Stundenlohn wie ein Facharbeiter.« Unter den Bedingungen der EU-Richtlinien bedeutet das: nicht viele, sondern sehr viele Tiere aufziehen; Schweine, weil die mehr einbringen, züchten statt Rinder, die Produktion gleich schwerer Lebendgewichte so weit wie möglich rationalisieren, das Futter, die »Chierschte«, wie ein Industriearbeiter einfahren: allein auf dem Mähdrescher, ohne Schnaps und ein Gespräch in der Pause.Schwein gegen ElektrikerEs gibt auch Bauern, die auf »Klasse statt Masse« setzen. Die einen neuen Stall bauen, wie Frieders*, bei denen 1987 die Schweine eine Rinderseuche auf die Kühe übertragen hatten. Die Tiere konnten nicht mehr im selben Stall gehalten werden. Frieders bauten nach neuestem Stand, aber nicht, um mehr Milch, sondern um sie leichter zu produzieren. Was immer anfällt, morgens und abends, ob Alltag, ob Ostern oder Krautweihe, die tägliche Arbeit sollte so einfach wie möglich werden.Dass es der Familie Frieder auf die Lebensqualität ankommt, hält Andrea Baier fest, auch, dass diese Familie stolz ist, »noch immer da zu sein«, obwohl der Berater von der Landwirtschaftskammer Herrn Frieder empfohlen hatte, doch lieber auf dem Bau zu arbeiten. »Wachsen oder Weichen« lautet die Devise.Die Wissenschaftlerinnen beobachten, dass der Hof Frieder vor allem die eigene Familie ernährt. Das schließt ein weit verzweigtes Netz von Kusinen und Vettern ein, die sich ein Schwein zum Beispiel mit Elektrikerarbeiten ertauschen. Die Wissenschaftlerinnen registrieren, dass die Bäuerin Subsistenzwirtschaft betreibt, nicht nur, indem sie Gemüse im Garten zieht, sondern auch, indem sie Butter und Käse macht oder gemeinsam mit den Neffen Apfelsaft presst.»Ihr könntet euer Gemüse in der Apotheke kaufen!« sagen die einen. Nein, man darf die eingesetzten Stunden nur nicht mit dem bäuerlichen »Arbeitslohn« aufrechnen, sagen die anderen.15. August. Das Glöckchen im alten Wehrturm der sandsteingedeckten Kirche läutet ein letztes Mal. Der indische Vertretungspfarrer und seine Messdienerin beugen die Knie vor dem Altar. Das barocke Altarbild über ihnen will glauben machen, wie es damals war, als Maria in den Himmel aufgenommen wurde. »Oh Zeichen groß!« Der Gemeindegesang klingt voll und überzeugt. Dafür, dass »Maria Himmelfahrt« auf einen Mittwoch fällt, ist der Kirchenraum überraschend gefüllt. »Ihr Kleid die Sonn, der Mond ihr Schuh, zwölf Stern ihr Kron.« Der Liedtext malt das Bild einer Maria, die einer vorchristlichen Göttin täuschend ähnlich sieht. Da liegen die Krautbunde wohl richtig zu ihren Füßen. Es sind viele, dreißig mindestens. In jedem öffentlichen Raum, in der Bank wie in der Schule soll ein Strauß aufgestellt werden und jeder Vereinsvorstand soll einen erhalten.Das Krautbund wird zu einer Besinnung auf das, was man hat. »Nur wenn man weiß, wo man steht, weiß man, wo man hinwächst,« betont der Vorsitzende des Heimatvereins. Wird es ein anderes Wachsen geben als das in der globalen Wirtschaft? »Im Krautbund ist die Besonderheit der Region, ihre Vegetation, geradezu gebündelt. Es gehört zur unverwechselbaren Kulturtradition, und die Tradition markiert die besondere Weise, ja das besondere System des Wirtschaftens in der Region«, verabschiedet sich Veronika Bennholdt-Thomsen, »eben weil es auf den Beziehungen unter den Menschen beruht.«* Name geändert
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