Fieber

Schwund der Realökonomie Nach den "Blaumännern" die Krawatten - Stellenabbau und Fusionitis

Eine doppelte Erhitzung grassiert in der gesamten Unternehmenslandschaft. Den fieberhaften Planungen für einen Stellenabbau in immer größerem Maßstab entspricht auf der anderen Seite ein Steigen des "Übernahmefiebers". Beide Erscheinungen stehen im inneren Zusammenhang. Die Welle der mikroelektronischen Rationalisierung erreicht nun auch bislang ausgesparte Sphären. Den jüngst bekannt gewordenen Massenentlassungen im Bank- und Versicherungswesen folgen neue Freisetzungsprozesse in den Verwaltungsbereichen der Industriebetriebe. Nach den "Blaumann"-Sektoren sind auch die "Krawatten"-Sektoren reif geworden für die Abwicklung. Die Rede ist von einer Industrialisierung der Verwaltungsfunktionen, die sich auf die Automobilindustrie sowie die Energie- und Versorgungswirtschaft konzentriert, aber auch in den anderen Branchen wirksam wird. Durch immer kostengünstigere Kommunikationsinfrastrukturen ist eine "kritische Masse" für die Standardisierung und Automatisierung betriebswirtschaftlicher Abläufe im Finanz- und Rechnungswesen, Personalwesen und Einkauf erreicht worden. Das Resultat ist nicht nur ein zusätzlicher Abbau Hunderttausender von Stellen hierzulande. Auch das Offshoring in Niedriglohnländer wird infolgedessen zum Auslaufmodell.

Diese bevorstehende neue Qualität der strukturellen Massenarbeitslosigkeit geht einher mit neuen Rekorden auf dem Übernahmemarkt, dessen Volumen 2006 um ca. 120 Prozent über dem des Vorjahres liegen wird. Bezogen ist diese Größe auf die geplanten oder schon vollzogenen Übernahmen europäischer und außereuropäischer Unternehmen durch Konzerne, die in der BRD firmieren. Das hat jedoch nichts zu tun mit einer erneuerten "ökonomischen Führungsposition Deutschlands", wie es aus traditionell linker Sicht hartnäckig geltend gemacht wird. Vielmehr handelt es sich um eine fortschreitende Transnationalisierung des Kapitals, die den nationalökonomischen Rahmen längst gesprengt hat und keiner staatlich-regulativen Zusammenfassung mehr unterliegt. Gleichzeitig findet diese Transnationalisierung nur noch zum kleineren Teil auf der realökonomischen Ebene statt. Mit jedem neuen Schub der Wegrationalisierung von Arbeitskraft schmilzt die "abstrakte Arbeit" (Marx) als Substanz der Realakkumulation ab, was an der Marktoberfläche als Schwund von Kaufkraft erscheint. Gewinne sind immer weniger aus der Produktion und dem Verkauf von Waren zu erzielen, sondern zunehmend nur noch aus den Transaktionen auf dem Übernahmemarkt. Das von den "Firmenjägern" erlegte Wild wird zerlegt, um die Einzelteile teurer an Investment-Gesellschaften weiterzuverkaufen, die sich dann am Kassenbestand, an Kreditforderungen etc. gütlich tun, bis der Abfall beim Insolvenzrichter landet.

Die Rekorde in der Gewinnsteigerung z.B. von Deutscher Bank (32 Prozent), Allianz-Gruppe (64 Prozent), BMW (44,5 Prozent) oder BASF (17 Prozent) entstammen großenteils nicht mehr realer Mehrwertproduktion, sondern solchen zirkulativen Transaktionen auf dem "Unternehmensmarkt". Und diese exorbitanten Gewinne werden einerseits in neue Rationalisierungsinvestitionen, andererseits in neue Übernahme- und Ausschlachtungsprojekte überführt. Der Stellenabbau folgt dabei keiner realökonomischen Strategie mehr; er erweist sich als Moment einer prekären Verselbständigung des "fiktiven Kapitals" (Marx). Die Verbilligung von Waren zwecks größerer Marktanteile und realer Extraprofite ist zum Sekundäreffekt geworden; ohnehin machen die Personalkosten nur noch einen unwesentlichen Teil des vorgeschossenen Kapitals aus. Hauptsächlich dient die weitere Rationalisierung dazu, den Börsen- oder Verkaufswert der Unternehmen zu steigern. Gesellschaftlich erscheint dieser Prozess als soziale Krise, die jedoch im Kern eine Krise der Kapitalakkumulation selbst ist.

Deshalb macht es keinen Sinn, das scheinbare Missverhältnis von hohen Profiten auf dem Markt der Übernahmen (Mergers and Acquisitions) und dennoch forcierten Massenentlassungen moralisch zu skandalisieren. Dieses Missverhältnis entstammt keiner subjektiven Böswilligkeit, sondern den realen Bedingungen des seiner Arbeitssubstanz beraubten Krisenkapitalismus in der dritten industriellen Revolution, die nun neue Sektoren ergreift. Das Fieber von Stellenabbau und Übernahme-Schlachten folgt derselben Logik. Die Sehnsucht nach Arbeitsplatzinvestitionen wird zur gefährlichen Ideologie; stattdessen wäre das System der Lohnarbeit selber zu delegitimieren.


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Geschrieben von

Robert Kurz

Publizist und Journalist

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