Tour de Force Ach Wind, du Lüftchen, das die Straßen fegt, du lässt die Boote segeln und die Wolken fliegen, mischst Sauerstoff unter Auspuffgase, lässt freier ...
Ach Wind, du Lüftchen, das die Straßen fegt, du lässt die Boote segeln und die Wolken fliegen, mischst Sauerstoff unter Auspuffgase, lässt freier atmen, kühlst uns bei Hitze und lässt im Winter die subjektive Temperatur beträchtlich unter die objektive fallen, du Folge des Ausgleichs von Druckunterschieden in der Atmosphäre bist Bewegung, Erneuerung, bist Fortschritt. Heißt es nicht: "Im Wind liegt jede Stadt am Meer?" Ja, ja, so heißt es. Und es gibt Lebewesen, die ihre Form dem Wind verdanken, die Eiräupchen des Schwammspinners zum Beispiel, schweben vermittels langer Haare in der Höhe, Wanderheuschrecken bewegen sich nie mit dem Wind. Wer hätte das gedacht. Vor allem aber, und darum soll es heute gehen, gilt beim Wind ein
ind ein ehernes Gesetz: wer nicht mit mir ist, ist wider mich; will heißen: meistens hat man Gegenwind. Und das nicht etwa fifty-fifty. Von 360 Grad sind es mindestens 290, in denen er vom Kurs abbringt. Schlimmer aber noch, man sieht nicht, was er fordert. Einen Berg radelt man hoch und darf ihn wieder runterfahren, der Wind aber, verpuffte Energie, entzieht sich dem Äquivalententausch in perfider Weise. Arbeit ist Kraft mal Weg, sagt uns die Physik. Und Leistung ist Arbeit pro Zeit. Wind ist Anstrengung mal Mühe gleich Null. Was ist schon Felsen-Schleppen? Wir müssen uns Sisyphus als einen Radler im Gegenwind vorstellen. Ich weiß nicht, ob es am Alter liegt, aber dass ich wochenlang täglich und ohne Ausnahme auf dem Arbeitsweg gegen heimtückischen Wind anradele - das war früher nicht so. Jetzt bemerke ich aber öfter solche Phasen. Man kommt nicht von der Stelle. Gucke ich mich um, sieht die Welt ganz friedlich aus, alles in allerbester Ordnung, kein Wässerchen getrübt, höchstens gekräuselt, kein Halm geknickt, höchstens gebogen. Ich aber rackere, plackere, mühe mich ab. Die ersten zwei, drei Tage nimmt sich das noch gelassen, dann wird es anstrengend, zunehmend, will denn hier nichts mal wie von alleine gehen? Nein. Abends hat er sich gelegt, nie kriegt man als Rückenwind zurück, was man am Gegenwind geschuftet hat, es ist zum Mäusemelken. Am fünften Tag bin ich erschöpft, am zehnten bäumt sich noch einmal blinde Wut auf, will mit lautem Fluchgeheul zehn, zwölf Runden heftig in die Pedale treten, um dann nur um so resignierter weiter zu schleichen. Weil das so ist, habe ich die "Theorie der fiesen Winde" entwickelt. Sagen nicht auch einige Wissenschaftler für Europa zwischen Azorenhoch und Islandtief zukünftig eine erhöhte Wahrscheinlichkeit starker Stürme und Regenfälle voraus? Na also. Was ist, wenn das nun überhaupt nicht mehr aufhört? Stellen wir uns vor, es wehte dauernd und stetig ein bisschen zu kräftig und würde von Jahr zu Jahr ein Tickchen heftiger. Erst merkt man´s nicht, dann denkt man: war das eigentlich schon immer so? und erinnert sich, dass man früher einmal Federball spielen konnte im Park. Permanent zaust es nun an uns herum, bläst uns Sand ins Haar und unter die Kontaktlinsen, Schirme werden unsinnig, Frisbees, Hüte gehören der Vergangenheit an, man kann draußen nicht mehr Bücher, geschweige denn Zeitungen lesen, und mal bräsig in der Sonne sitzen macht auch keinen Spaß, weil da immer dieser fiese Wind ist. Dunkle Ahnung, Klimakatastrophe - spätestens an Tag 17 des permanenten Arbeitsweggegenwinds weiß ich ganz gewiss, dass uns eine böse Zukunft ins Haus steht, es kann nur schlimmer werden. Das muss dem Deutschen Wetterdienst doch aufgefallen sein. Die messen, zählen aus. Nöö, keine Änderung, sagt der zuständig Herr für Wind beim Wetterdienst, im Gegenteil, die Energiebranche stöhne über geringe Wind-Erträge in den letzten Jahren. Er liest mir vor: 3,9 Meter pro Sekunde wehte es 2001 in Berlin Schönefeld im Jahresmittel, 4,0 im Jahr davor und davor waren es 4,1. Klingt alles ähnlich und nicht wirklich dramatisch. Zwischen 1980 und 1990 war der Wert bei 3,9. Auch Meteorologe G. vom Klimaforschungsinstitut Potsdam will meinen Kassandra-Rufen kein Ohr schenken. "Wind ist ja nur interessant, wenn er stark ist", meint er und auffällige Steigerung der Windgeschwindigkeiten sieht er nicht. Tornados in den USA, ja, die gebe es und die zugehörigen wüstesten Theorien, zum Beispiel dass der Rechtsverkehr die Luft so gegen den Uhrzeigersinn verwirbele, dass Windhosen draus entstünden. Aber das ist ein anderes Thema. Ich bin enttäuscht. Nicht die klitzekleinste Langfrist-Katastrophe? Ihr werdet es noch sehen. Ich radele schließlich jeden Tag wider die Böen. "Wer Wind sät, wird Sturm ernten", sagt die Bibel. Und die hat meistens Recht.
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