Filmen für Unterdrückte

Werkschau Der Dokumentarfilmer René Vautier arbeitet für die richtige Sache. Acht Splitter aus seinem Leben
Was machen junge Männer im Krieg? René Vautiers Film "Mit 20 Jahren in den Aurès" von 1972 - der Eintritt für 20-Jährige ist in Frankreich und der Berliner Retrospektive frei
Was machen junge Männer im Krieg? René Vautiers Film "Mit 20 Jahren in den Aurès" von 1972 - der Eintritt für 20-Jährige ist in Frankreich und der Berliner Retrospektive frei

Foto: Sebastian Bodirsky

Vautier erklären

René Vautier muss man erklären. Und wenn man sagt, René Vautier ist einer der bedeutendsten Filmemacher des Cinéma militant, stimmt das und ist trotzdem leicht falsch zu verstehen. Auf Deutsch klingt das gewaltsam, dem französischen Sinn wird man damit so wenig gerecht wie dem Schaffen von Vautier oder seinen Dokumentarfilm-Kollegen Yann Le Masson, Carole Roussopoulos und Chris Marker. Gewiss, Vautier war Ende der fünfziger Jahre in den Kampfverbänden der FLN (Front de Libération Nationale) im algerischen Hinterland unterwegs, und er sprach von der 16mm-Kamera als „Faustwaffe“. Im Zentrum seines Filmemachens aber steht der Streit für die Sache der Unterdrückten. Dafür geht er Allianzen mit Gewerkschaften ein, mit Befreiungsbewegungen in Algerien, Südafrika, Zimbabwe. Und dafür lässt er sich in den Schnitt seiner Filme nicht hineinreden. Dieses Streiten für eine Sache drückt das französische Wort militant viel besser aus als sein deutsches Pendant.

Materialermüdung

Geboren 1928 in der Bretagne, Sohn einer Grundschullehrerin und eines Fabrikarbeiters, kämpfte Vautier als 15-Jähriger in der Résistance. Von der Filmschule zu den Streiks der Arbeiter in Brest – dort war der junge Gewerkschaftler Édouard Mazé getötet worden. Vautier dreht dessen Beerdigung und die folgenden Demonstrationen auf 16mm-Film. Er montiert das Material, von dem es kein Negativ gibt, zu einem zwölfminütigen Kurzfilm: Un homme est mort. Das Unikat wird zehn Tage lang über 150 Mal auf den bestreikten Baustellen, bei Versammlungen gezeigt – bis ein Projektor den strapazierten Film in Stücken ausspuckt. Keine Kunst für die Ewigkeit. Vautier kümmert es wenig: „Das Bild eines Streiks half, diesen Streik zu stärken.“ Während der Vorführungen rezitierte er ein Gedicht von Paul Éluard. Die 2006 erschienene Bildgeschichte von Kris und Étienne Davodeau erzählt davon: Un homme est mort.

Der Dissident als Staatsfeind

Vautier hat 1950 den ersten französischen antikolonialen Film gemacht: Afrique 50. Die Ligue de l’enseignement, eine Art Bildstelle für Schulfilme, hatte ihn nach Afrika geschickt, um einen Film für den Unterricht zu drehen. Er gerät mit den Kolonialverwaltungen aneinander, weil sein Blick auf Zwangsarbeit und Ausbeutung, seine Freundschaft mit den Akteuren der Befreiungsbewegungen ihn mit dem Décret Pierre Laval von 1934 in Konflikt bringen, das alle Filmaufnahmen im kolonialen frankophonen Afrika reglementiert. Er wird von der Polizei gesucht. „Wir haben uns mit der Dissidenz verbunden. Aus professioneller Ehrlichkeit, und weil die Zensur zu dumm war. Was mich während dieser Zeit bestärkt hat, das war die Wut.“ Erst in den neunziger Jahren erhält Afrique 50 die ministerielle Freigabe fürs Kino – davor konnte er in Frankreich nur in politischen Filmclubs und Jugendzentren gezeigt werden. So war der mit staatlichen Ehrungen dekorierte Résistance-Kämpfer René Vautier zum Staatsfeind geworden, ohne, wie er sagt, an seiner Haltung etwas geändert zu haben.

Im Gefängnis

Beim Filmfestival von Warschau verlieh die Jury um den berühmten Dokumentarfilmer Joris Ivens Afrique 50 die Goldmedaille. Aus dieser Zeit rührt die Freundschaft Vautiers mit dem Defa-Dokumentaristen Karl Gass, den er für dessen Algerien-Filme mit Kontakten unterstützte. 1958 dreht Vautier in Zusammenarbeit mit der Defa und der FLN Flammendes Algerien. Die Zensur-Tentakel der französischen Regierung reichten weit, aber nicht in die DDR. Auf algerischer Seite provoziert die Zusammenarbeit mit Vautier harte Diskussionen über die Gratwanderung zwischen solidarischem Engagement und propagandistischer Funktionalisierung. Vautier trifft den FLN-Strategen Abane Ramdane und Vordenker der Entkolonialisierung, Frantz Fanon; Letzterer geht nur unter detaillierten Bedingungen darauf ein, dass ein Franzose und Mitglied der Kommunistischen Partei sein Recht am final cut behält. Vautier ist der Erste, der nach der Bombardierung algerischer Zivilisten bei Sakiet Sidi Youssef 1958 in Tunesien filmt. Während der Postproduktion gerät Ramdane in die Flügelkämpfe der FLN und wird getötet, daraufhin wird Vautier zwei Jahre in einem FLN-Gefängnis in Tunesien gefangen gehalten. Flammendes Algerien. Der Film läuft in 27 Ländern.

Publikumsausbildung

Nach der Freilassung kann Vautier nicht nach Frankreich, wo er wegen Flammendes Algerien mit Haftbefehl gesucht wird. Er gründet in Algier das Audiovisuelle Zentrum Ben Aknoun und prägt damit vier Jahre lang das Filmschaffen und Filmschauen im unabhängigen Algerien: Die Ciné-pops (kurz für: cinema populaire) bringen mit Projektoren auf Lastwägen internationale Filmkunst aufs Land, wohin das Kino als Kunstform der kolonialen Elite oft nicht vorgedrungen war. Manches Mal ist schon die Anwesenheit von Publikum ein kämpferischer Akt – wenn die Frauen eines Ortes vereint gegen den Willen ihrer Männer dahin gehen. Das Zentrum Ben Aknoun bildet algerische Filmemacher, aber auch Black Panthers aus den USA aus, weshalb Vautier lange nicht nach Amerika einreisen darf. Später kehrt er nach Frankreich zurück, in die Bretagne, aber er bleibt „René l’Africain“. Er spricht besser arabisch als bretonisch. Bei unserem Besuch zeigt er voller Stolz zuerst ein Interview mit ihm auf Al Jazeera.

Miserabilismus

Zurück in Frankreich, wo das Erbe der Kolonialzeit Alltagsrassismus heißt. 1969 entwickelt Vautier mit algerischen Einwanderern und dem am Berliner Ensemble ausgebildeten Schauspieler Mohammed Zinet Les trois cousins. Format: Super 8. Die Geschichte: eine tatsächliche Begebenheit. Drei Cousins brechen auf nach Bidonville in Nanterre, auf der Suche nach Arbeit und finden den Tod durch Erstickung in der Baracke, in der sie hausen. „Zunächst waren die Darsteller nicht begeistert angesichts der Idee, ihre Probleme in Bilder zu bringen; sie wollten eines vermeiden: den Miserabilismus. ‚Wir brauchen kein Mitleid.‘“

Filmlektüren im Internet

Filme müssen gesehen werden können, um etwas zu bewirken. Vautier setzt nicht aufs Kino als Raum, sondern sucht Öffentlichkeit, wo er sie findet. Im Laufe der Jahre hat er eine bewundernswerte Fertigkeit entwickelt, über seine Werke zu reden und eine Diskussion zu stimulieren, die über den Film zur je eigenen Situation führt. Daraus wird das Format der „Film Lecture“: Ausschnitte aus Filmen, an denen die Widrigkeiten der Verhältnisse, unter denen sie entstanden sind, erklärt werden. Diese Film Lectures finden sich heute im Internet. Man erkennt, was das Cinéma militant von Vautier ausmacht: eine Kombination aus formaler Überlegung, inhaltlicher Diskussion und organisatorischer Gewieftheit.

Verschwundenes Werk

Wer Film denkt und benutzt wie Vautier, gehört nicht zum Kanon und hat sich nie sonderlich gekümmert um die Sicherung von Kopien seiner Werke; das bewegte Leben sorgt für große Verstreutheit. In den achtziger Jahren wurde zudem ein großer Teil von Vautiers Archiv bei einem Anschlag zerstört. Es gibt ein Videodokument über das Ausmaß der Zerstörung. In den letzten Jahren sind einige Filme restauriert worden, gerade lief auf dem Festival in Venedig eine von der Cinémathèque française wiederhergestellte Kopie von Avoir 20 ans dans les Aurès (Mit 20 Jahren in den Aurès), der jetzt auch in die französischen Kinos kommt. Für 20-Jährige ist der Eintritt umsonst.

Epilog mit Kaffee und Kuchen

Wir treffen René Vautier in Cancale, wo er lebt: über der bretonischen Küste, mit seiner Frau, der Filmemacherin Soazig Chappedelaine. Er freut sich über Besuch, spricht viel von transmettre, vom Weitergeben, und mimt grandios einen „etwas beschränkten französischen Soldaten“, den er in Z von Costa-Gavras gespielt hatte. Zum Abschied bekommen wir noch einmal eine Tasse Kaffee und bretonischen Kuchen, und dann fängt Vautier an zu erzählen, worauf er zu Beginn nichts sagen wollte aus, trotz allem, Solidarität – wie es war im FLN-Gefängnis in Tunesien. René Vautier arbeitet weiterhin, und er arbeitet wieder am Anfang – mit Tochter Moira an einem Film über den Polizisten, der 1948 den Schießbefehl gegen die streikenden Arbeiter in Brest gegeben hatte. Die Akten sind endlich zugänglich.

Zusammengetragen wurden die Splitter von Madeleine Bernstorff und Sebastian Bodirsky. Anlass ist eine der seltenen, von beiden kuratierte Retrospektive von Vautiers Filmen im Berliner Zeughauskino. Noch bis 10. Dezember, Programm unter ohnegenehmigung.com

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