Finger weg, Bärenklau!

68. Berlinale Am Ende war die Überraschung über die Entscheidungen der Jury groß
Ausgabe 09/2018
Christian Petzolds „Transit“, einer der beiden Kritikerfavoriten, ging leer aus
Christian Petzolds „Transit“, einer der beiden Kritikerfavoriten, ging leer aus

Foto: Marco Krüger/Schramm Film

Zeit war eine brüchige Kategorie im Wettbewerb dieser Filmfestspiele. Sie war dehnbar, ein Schwebezustand, der als Gegenwart nicht zu fassen ist. Die Geschichten spielten im Davor oder Danach. Der russische Beitrag Dovlatov versenkte seinen Blick in die repressive Periode der Sowjetunion zu Beginn der 1970er, die nonkonformistische Künstler als verlorene Zeit erleben. Das Paar in Las Herederas lebt von gestundeter Zeit, muss sein Erbe verkaufen, um den gewohnten bürgerlichen Lebensstil aufrechtzuerhalten.

Christian Petzolds Transit wiederum schillert klug zwischen Historie und Jetztzeit. Er überträgt Anna Seghers’ Flüchtlingsroman vom Marseille der deutschen Besatzung in eine alternative Gegenwart, in der erneut eine faschistische Bedrohung herrscht. Sein Held muss moralische Entscheidungen in einer Zwischenzeit treffen, in der seine eigene Identität schwankt.

Vielleicht nimmt es nicht wunder, dass in diesem Jahr ein Film den Goldenen Bären gewonnen hat, der den Eindruck erweckt, seinen Blick ganz intensiv in eine erlebte Gegenwart zu versenken. Adina Pintilies Touch me not, der radikal ausschert aus allem, wofür das rumänische Kino seit gut einem Jahrzehnt gefeiert wird, zeigt reale und fiktive Figuren, die in diversen Therapieformen die Angst vor körperlicher Nähe und Intimität überwinden sollen. Dieser Hybrid aus Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm spaltete Publikum und Kritik, fügt sich aber in einen Strang von Heilungsprozessen.

Cédric Kahn inszeniert in La Prière den rabiaten Drogenentzug in einem katholischen Heim als strenge cineastische Liturgie. Gus Van Sant wiederum gelingt es in Don‘t worry, he won‘t get far on Foot, dem Biopic des querschnittsgelähmten Cartoonisten John Callahan, die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker munter durchzudeklinieren. In Malgorzata Szumowskas Twarz (Spezialpreis der Jury) hingegen lässt das bigotte, xenophobe Milieu der polnisch-katholischen Provinz keinen Lernprozess zu und ihr Held, dessen Gesicht nach einem Unfall rekonstruiert wird, kann sein Heil nur in der Flucht suchen.

Es ist nicht die Aufgabe einer Jury, den ihr vorgelegten Wettbewerb treffend abzubilden. Diesen Jahrgang haben Präsident Tom Tykwer und seine Mitstreiter radikal auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt. Sie ignorierten die Kritikerfavoriten Transit und Ang Panahon Ng Halimaw (In Zeiten des Teufels) von Lav Diaz mit ostentativer Souveränität. Und obwohl das Festival mit vier Filmen ein offensives Angebot machte, ging das deutsche Kino leer aus. Die Entscheidung hätte wahrscheinlich nicht viel anders ausgesehen, wären stattdessen die von der Auswahlkommission abgelehnten neuen Arbeiten von Ulrich Köhler und Florian Henckel von Donnersmarck gelaufen.

Die Preisverleihung war keine grundsätzliche Absage an den Autorenfilm, der sich bemüht, aktuelle Erfahrungs- und Diskursräume zu eröffnen. An Marcelo Martinessis wunderbar unaufgeregtem Porträt des lesbischen Paares in Las Herederas führte kein Weg vorbei. Seine geschlossene und doch vibrierende Bildsprache eröffnet in der Tat Perspektiven; nicht nur für die Hauptfigur, die ihre Lebenstüchtigkeit zurückgewinnt. Der Preis für das Kostüm- und Szenenbild von Dovlatov hingegen war eine befremdliche Wahl, denn seine magisch beklemmende Atmosphäre verdankt der Film von Alexej German jr. ganz anderen Aspekten.

Tykwers Ankündigung, die Jury wolle nicht nur würdigen, was das Kino momentan ausmacht, sondern „wo es vielleicht noch hingeht“, gewann im Verlauf der Verleihung einen zwiespältigen Klang. Sie schürte Zweifel, ob hier wirklich die überzeugendsten Leistungen prämiert werden oder nicht vielmehr kreatives Potenzial ermutigt werden sollte. Mit ihren Entscheidungen hat die Jury dem 68. Jahrgang der Berliner Filmfestspiele einen Besserungsschein ausgestellt, den das Festival in seinen kommenden Ausgaben dringend einlösen muss.

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