The Point of no Return für die russische Kriegführung in Tschetschenien könnte mit der Einnahme Grosnys erreicht sein, steht doch die Armee in einer weitgehend verheerten und zerstörten Stadt, die sie nicht zuletzt deshalb erobern wollte, um der eigenen Bevölkerung den Schein eines Sieges vorzugaukeln.
Doch könnte sie gerade mit diesem Sieg in eine strategische Falle geraten sein, die von den tschetschenischen Separatisten für Russ lands Soldaten in einem viermonatigen Zermürbungskrieg gestellt wurde. Denn in den Bombenkratern und Granattrichtern Grosnys dürften sich für die russische Armee weder genügend Quartiere noch ausreichende Verpflegungsmöglichkeiten für den Winter finden lassen. Die tschetschenische Guerilla hingegen
hingegen folgt derweil dem Kalkül, sich in kleinen Einheiten in die Dörfer und Bergregionen des Nordkaukasus zurückziehen und von gesicherten Positionen her den allgemein erwarteten Partisanen-Krieg mit all seinen Zermürbungs- und Abnutzungseffekten führen zu können.Für Wladimir Putin - Russlands starken Mann - stehen die Unwägbarkeiten einer solchen Entwicklung außer Zweifel. Mit Bomben allein, erklärte er soeben, könne der tschetschenische Krieg nicht gewonnen werden. Für einen Sieg brauche die Regierung mehr denn je die Unterstützung der Bevölkerung. Die Regierung betrachte tschetschenische Zivilisten als Bürger der Russischen Föderation. Bürger, die man nicht opfern werde, nur um militärische Ziele zu erreichen. Ein Fisch - so scheint es - der sich das Wasser, in dem er schwimmen möchte, erst noch beschaffen will. Ungerührt teilte im Gegenzug das tschetschenische Kommando der Öffentlichkeit mit, man werde nun vom Stellungskrieg zum landesweiten Guerillakrieg übergehen - das sei ohne Alternative und seit längerem geplant.Für die russische Armee möglicherweise eine prekäre Situation. Das aus gut trainierten Spezialeinheiten wie auch unzureichend ausgebildeten Wehrpflichtigen zusammengewürfelte Korps kann weder vor noch zurück: Nicht zurück, weil es damit die politische Zustimmung verspielen würde, die Wladimir Putin braucht, um seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen am 26. März nicht zu gefährden. Nicht vor, weil man - auch wenn noch brutalere Einsätze befohlen werden - außerstande sein wird, die tschetschenische Guerilla aus der Bevölkerung herauszu"säubern".Wladimir Putin steht in Grosny wie einst Napoleon in Moskau, das seinerzeit von seinen Bewohnern verlassen und an vielen Punkten in Brand gesetzt wurde, um dem Eroberer einen leichten Sieg zu suggerieren, der sich mit der verlustreichen Schlacht von Borodino 1812 als Pyrrhussieg herausstellen sollte. Aber offenbar hat die russische Generalität weder aus den Siegen Russlands gegen Napoleon, noch später gegen Hitler, noch aus den Niederlagen in Afghanistan oder dem ersten tschetschenischen Krieg Lehren gezogen. Wie hätte man sich sonst in einen viermonatigen Stellungskrieg um Grosny verbeißen können, der russische Kräfte und Finanzen band, während er der Guerilla jede Menge Zeit gab, sich für den langwierigen Krieg zu organisieren!? Wladimir Putins Hoffnung auf Unterstützung seitens der "Zivilisten" ist - gelinde gesagt - blind: Zweifellos ist die Enttäuschung der tschetschenischen Bevölkerung gegenüber ihrer eigenen Führung groß, so dass sie ihr nicht mehr vertraut. Der gewählte Präsident Maschadow hat sich als unfähig erwiesen, den Banditismus der Warlords zu kontrollieren oder zumindest zu kanalisieren und ein normales Leben in Tschetschenien zu ermöglichen. Die Offensive der russischen Armee andererseits, das Wüten ihrer Bomber, die "Säuberungen" der Dörfer, die rücksichtslose Vertreibung ist ebenfalls nicht geeignet, die noch aus dem Krieg in den Jahren 1994 bis 1996 - darüber hinaus auch aus früheren anti-kolonialen Konflikten - virulenten anti-russischen Gefühle in Sympathie gegenüber der russischen Nation zu verwandeln. Im Gegenteil, dieser Krieg hat - noch mehr als der erste - mit jedem Tag neue Kämpfer hervorgebracht und bringt ständig weitere hervor. Die Bevölkerung hat keine Wahl, als sich zu wehren. Solange Wladimir Putin den Krieg nicht bedingungslos einstellt und die tschetschenische Unabhängigkeit oder wenigstens eine weitreichende Autonomie anerkennt, sondern mit seinen Aufrufen zur Unterstützung der Armee zugleich seine Siegesabsichten verkündet, wird sich daran kaum etwas ändern. Insofern ist auch noch längst nicht entschieden, wie der Verlauf des Tschetschenien-Krieges in den nächsten Wochen des Wahlkampfes reflektiert wird. KP-Chef Gennadij Sjuganow ist inzwischen offiziell als Kandidat nominiert und hat gegenüber Putin einiges an Prozentpunkten zugelegt. Der Übergangspräsident darf weder straucheln noch wackeln. Weder der Krieg im Kaukasus noch die Herrschaft im Kreml sind endgültig gewonnen.