Fontanes Facetten

A–Z Wir erklären das Fontane-Jahr für eröffnet. Das Lexikon über einen Mann mit vielen Gesichtern
Ausgabe 03/2019

A

Apotheker Theodor Fontane tritt widerwillig in die Fußstapfen seines Vaters, er beginnt mit 17 eine Ausbildung zum Apotheker, wird später bei Wilhelm Rose in Berlin arbeiten, hier eine Zeitlang jeweils einen Monat Rezepte ausgeben oder im Hinterzimmer einen Mode-Extrakt für die Briten zusammenrühren (hier bleibt ihm auch Zeit für Notizen Chronist). All das ist schön nachzulesen in seiner Biografie Von Zwanzig bis Dreißig. Weil ihm das Geld für eine Apotheke fehlt und man als angestellter Apotheker kaum jemals große Sprünge machen kann, entschließt er sich 1849 endgültig, ein freier Schriftsteller zu werden.

Später wird er das eine glückliche Fügung nennen. Womöglich wäre das „Poetenthum“ nur ein Hobby geblieben? Sein Chef Rose, der notorisch seine Komplexe kompensierte, nur ein Apotheker zu sein, wird unsterblich – als Figur in Fontanes Romanen. Katharina Schmitz

C

Chronist „Darauf fing er nochmal an zu beten: Herr Jesu! – welches noch nicht aus war, so flog der Kopf weg, welchen mein Kerl aufnahm und wieder an seinen Ort setzte“, so zitiert Fontane den Bericht des Majors von Schack über das Enthaupten des Leutnants von Katte am 6. Juni 1730 auf der Festung Küstrin. Als Chronist des Schreckens hat sich der Dichter in der Katte-Tragödie von 1863 des Falls angenommen, die Unerbittlichkeit Friedrich Wilhelms I. beschrieben, der Kattes Tod wollte, um damit seinen Sohn, den Kronprinzen Friedrich, zu quälen. Der hatte mit Hilfe des Freundes dem brutalen Joch des Vaters entfliehen wollen – und war gescheitert. Der 6. Juni 1730 als eines Edlen Todestag veranschauliche, so Fontane, „jene moralische Kraft, aus der dieses „gleich sehr zu hassende und zu liebende Preußen“ erwuchs. Dessen geschichtsschwerer Fußabdruck zwischen Fehrbellin und Küstrin hat den Erzähler stets beschäftigt, in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg ebenso wie dem Romanerstling Vor dem Sturm. Lutz Herden

F

Feminist Mit Flaubert teilt Fontane das Los, als Feminist zu gelten. Dabei darf hier das malgré lui nicht fehlen. Beide wurden es ohne eigenes Zutun. Fontane hat für die deutsche Literatur ein breites Spektrum der modernen Frau entdeckt: empathische Liebhaberin (Effi), besitz- und machtbewusste Mutter (Jenny), mörderische Rächerin (Grete), kosmopolitisch talentierte Intellektuelle (Melusine). Eine Dienstmagd wurde bei Fontane wie bei Flaubert zur autonomen Frau und literarischen Protagonistin (Stine und Félicité). Solche Heldinnen machen jede Vorstellung anrührender „Frauenschicksale“ in akribischen Nahaufnahmen weiblicher Existenzbedingungen des 19. Jahrhunderts zunichte und leuchten fiktiv ihre engen Spiel- und Freiräume aus.

Fontane interessierte sich wenig für Frauen im Besonderen (Kriegsgefangener), er fürchtete sich vor der Emanzipation, von der man seinerzeit aus England und Frankreich auch in Deutschland hörte, sein Frauenbild orientierte sich an häuslichen Aufgaben (Gemahlin, Hausfrau, Mutter). Als Realist jedoch waren dem Polygrafen alle Phänomene seiner Zeit gleichwertige Gegenstände seiner Dokumentationswut, und darin mag de facto bis heute ein Fortschritt für den Feminismus liegen. Eva Erdmann

K

Kriegsgefangener Im September 1870 bricht Fontane nach Frankreich auf, um Eindrücke für sein drittes und, wie er an Verleger Rudolf von Decker schreibt, „hoffentlich letztes Kriegsbuch“ zu sammeln (Sammler, Journalist). Der Weg führt über Wissembourg, das er in Briefen an seine Frau (Liebender) in Anführungszeichen setzt, sofern er es nicht deutsch, Weißenburg, schreibt, nach Domrémy, die Geburtsstadt der Jeanne d‘Arc.

Hier wird er verhaftet. Man findet einen Revolver bei ihm. Dass er das rote Kreuz trägt, obwohl der gelernte Apotheker kein Arzt ist, ist auch verdächtig. Die erste Nacht in Gefangenschaft verbringt Fontane, der mehr Angst vor Wanzen als vor Heckenschützen (Brief an Emilie Fontane vom 29.9.1870) hat, auf einer Fensterbank, weil der Boden seines Schlafgemachs vor Ratten wimmelt. Man bringt ihn nach Besançon, wo er freigesprochen wird. Da er aber Geheimnisse verraten kann, wird er auf der Île d’Oléron festgesetzt. Bismarck persönlich erreicht seine Freilassung. Am 1.12. verlässt er Frankreich mit dem Ziel Genf. Mladen Gladić

Kritiker „Der Herr hat heute Kritik“, so die überlieferte Warnung der Bediensteten, wenn Fontane nach einem Theaterbesuch morgens am Schreibtisch saß. Dann schrieb er (9. Mai 1874) Sätze wie: „Vor einem Publikum, in dem das Freibillett und die Dankbarkeit vorherrschten, ging (…) die Goethesche Iphigenie neu in Szene.“ Manche unkten, „Th. F.“ bedeute Theaterfremdling. Den Kummer, den ihm die Notwendigkeit, härter zuzulangen, bereitet, teilt er gern mit, zum Beispiel, wenn er bedauert, am Triumph, der einer Schauspielerin bereitet wurde, nicht mitwirken zu können. Magda Geisler

L

Liebender Der Fontane-Leser darf reichlich überrascht sein, wendet er sich bei anhaltendem Interesse der Biografie des Autors zu. Hat dieser den Ehebruch zu einem fast obsessiven Thema gemacht, Libertinage ohne preußisch moralischen Dünkelton beschrieben und sich in autobiografischen Berichten an das „Poussieren“ in jüngsten Jahren gern erinnert, war er privat 50 Jahre glücklich und solide mit Emilie verheiratet, gründete eine Familie, in der alle alles gemeinsam tun, nach Venedig reisen (1875) oder an starker Influenza leiden (1892), bis die Eheleute wenige Jahre kurz aufeinander starben.Die Liebe scheint den Dichter (Wanderer) als Großgefühl kaum inspiriert zu haben, dem Schriftsteller war sie wohl triviale Alltagspraxis. Eva Erdmann

R

Revolutionär Im Defa-Film Karla, gedreht 1965, steht die Titelheldin als junge Lehrerin Karla Blum vor ihrer Abiturklasse. Was man denn über Fontane wisse? Daraufhin eine Primanerin: „Fontane stand in der Front der kritischen Realisten als linker Flügelmann. Er hat die Kraft der Arbeiterklasse voll erkannt, wenn auch nicht gültig gestaltet.“ – „Wer hat euch denn diesen Unsinn erzählt?“, fragt Blum entgeistert. – „Der Herr Direktor.“ Das Fontane-Bild, leicht retuschiert und damit frisiert? Tatsächlich schrieb der Dichter in seiner Jugend manche Ode auf „das Adlerland“ Preußen, stand dann aber 1848 mit Berliner Märzkämpfern (Kriegsgefangener) auf der Barrikade.

Als verdeckter Revolutionär gibt sich Fontane im Alterswerk Der Stechlin zu erkennen. Die Gestalt des Pfarrers Lorenzen (ein Alter Ego?) wirkt nicht nur recht sozialdemokratisch, ihm ist auch der Ständestaat so suspekt, dass er gar von „unser Regime“ spricht, das „dem Niedersteigenden eine künstliche Hausse zu geben“ suche. Die Kraft der Arbeiterklasse aber – da blieb Fontane eisern, was er nicht kannte, darüber schrieb er nicht. Lutz Herden

Romancier In den Jahresberichten des Gymnasiums, das ich besuchte, konnte man nachlesen, was übers Schuljahr im Deutsch-Leistungskurs gelesen worden war. Immer dabei: Fontane. Ich überlegte ab der Mittelstufe jedes Jahr, welchen ich später wohl lesen würde. Es wurde Effi Briest, über den Fontane sagte, er sei „träumerisch und fast wie mit einem Psychographen geschrieben“. Mich rührte zu Tränen, wie die lebensfrohe, mit dem doppelt so alten Instetten verheiratete Effi durch die Affäre mit dem Major von Crampas (Liebender) ins gesellschaftliche Abseits rutscht und unter einer weißen Marmorplatte endet, die ihren Mädchennamen trägt: „Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wieder haben; ich habe keinem anderen Ehre gemacht.“

Welche Fülle an Finessen Fontane einsetzt, um diese Wirkung zu erzielen, dokumentiert bis heute mein Exemplar von damals: „Gestörter locus amoenus!“ steht auf der ersten Seite, neben „Immer Tochter der Luft“ habe ich mehrere Ausrufezeichen gekritzelt. Kein anderer Fontane-Roman hat mich so ergriffen, auch weil ich in ihm so viel über Handwerkszeug gelernt habe, über das Schriftsteller verfügen – oder eben nicht. Beate Tröger

S

Sammler In seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg von 1862 (Wanderer)schreibt Fontane, das „immerhin Umfangreiche“, das er biete, sei „auf wenig Meilen eingesammelt“. Fontane reiht sich hierin ein Genre ein, das schon große Erfolge wie Arnims und Brentanos Des Knaben Wunderhorn (1806 – 1808) und die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (1812/1815) verbuchen kann.

Zudem profitiert das Projekt davon, dass schon allerorten in Deutschland historische Vereine und Journale gegründet worden sind. Sammeln ist nicht mehr die einsame Passion Einzelner, sondern weit verbreitete kulturelle Praxis. Wenn Fontane nun schreibt: „Und sorglos hab’ ich es gesammelt, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Erndte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Aehren aus dem reichen Felde zieht“, muss man ihm nicht jedes Wort glauben, wie Petra McGillen in ihrem Buch The Fontane Workshop: Manufacturing Realism in the Industrial Age of Print,das in diesem Jahr bei Bloomsbury erscheint, betont. Von Wandern oder gar Spazieren kann auch kaum die Rede sein: Fontane begab sich auf genau geplante Kutschfahrten und konnte sich auch auf Beiträge anderer zur Lokalgeschichte der Mark stützen, die er oft nur minimal redigiert in seine Wanderungen übernahm. Sammeln als „Crowdsourcing“, nennt die Literaturwissenschaftlerin vom Dartmouth College das. Mladen Gladić

W

Wanderer Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg kennt doch jedes Kind. Dass Fontane innerhalb von Berlin und den damaligen Vororten wie Wilmersdorf nicht nur stadtwanderte, weiß man dagegen schon weniger. Berlin war damals noch viel kleiner, und die Entfernungen wirkten stärker. Ein Nachmittag in Halensee konnte da „fast so poetisch wie vier Wochen Capri“ anmuten, wie es im Roman Jenny Treibel heißt.

Aber Fontane wanderte nicht nur durch die Stadtlandschaft, er führte in Berlin eine gleichsam nomadisierende Existenz. 16-mal zog er innerhalb der Stadt um. Typisch für Berlin: Keines der Häuser, in denen Fontane wohnte, existiert noch. Die Motive zum Umziehen kommen einem dabei seltsam vertraut vor: So musste er aus der Königskrätzer Straße (heute Stresemannstraße) wegen einer massiven Mieterhöhung raus. Er zog in die Potsdamer Str. 134c. An dieser, seiner letzten Adresse führte Fontane die so erfüllende wie gleichförmige Existenz des Romanciers: „Arbeit bis um 3, Mittagbrot, Schlaf, Kaffee, Buch oder Zeitung. Von 365 Tagen verlaufen 300 nach dieser Vorschrift“. Michael Angele

Z

Zeitungsmann Was wäre er heute? Ein Twitterer? Ein ironischer Klatsch-Kolumnist oder ein besonnener Feuilletonredakteur? Möglicherweise von allem ein wenig. In jedem Fall war er Journalist. Nachdem er eine Ausbildung zum Apotheker absolviert hatte, betätigte er sich als Berichterstatter in drei Kriegen und wurde sogar für einige Monate inhaftiert (Kriegsgefangener). Auf die Jahre als „Schlachtenbummler“ folgten dann eher ruhigere Ressorts. Fortan schrieb er Theaterkritiken und Reisetexte. Fontane, der Quer- und Vieldenker, der Sammler von Zeitungsschnipseln und hellsichtige Medienbeobachter, wäre heute sicher ein Influencer. Da braucht es doch nur noch den #FontaneLebt! Björn Hayer

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