FREITAG: Als Mitglied der künstlerischen Leitung der Schaubühne in Berlin sind Sie schon vielfach befragt und bekannt. Ich möchte gern wissen, wie Sie arbeiten, denn mir fällt erstens auf, dass in Ihren Inszenierungen der Herstellungsprozess der Aufführung in besonderer Weise transparent bleibt und, zweitens, dass Ihre Form der realistischen Immanenz etwas hoch Artifizielles hat, etwa, Kunst der Fuge und Alltag - wie machen Sie das?
THOMAS OSTERMEIER: In Gier von Sarah Kane, einem Stück für vier Figuren, die bei uns vier "Stimmen" sind, habe ich das, was sie sagen, sinfonisch komponiert, obwohl es aus Alltagsversatzstücken besteht, aus Tönen, die man hört, wenn man frei assoziiert oder sich erinnert. Es gab eine Zeit, in der ich mein Glück als Musiker versucht habe, das geht sicher in die Aufführung ein, die wie eine Partitur zusammengesetzt ist, also, in den Fermaten und Tempi der einzelnen Sätze ist nichts dem Zufall überlassen, wenngleich es sich bei den Spielern so anhört, als sei jeder Satz ganz direkt gesprochen, denn ich wollte nicht den formalen Charakter, ich wollte das Alltägliche betonen.
Auch in Kroetz´ "Wunschkonzert" geht es um das Alltägliche, aber hier zeigen Sie den Bewegungsablauf der Figur, um die es geht, ohne Ton.
Ich zeige ihn wie beim Blick auf den Block gegenüber - ich bin ein passionierter Voyeur und frage mich jedes Mal - auf der Straße oder sonstwo - wie diese Menschen existieren, was passiert da überhaupt? Leider kann man niemanden allein beobachten, außer sich selber. Davon aber, wie ich mich selber im Alltag beobachte, ist viel in der Aufführung drin.
Die Schauspielerin räumt Dinge hin und her, geht aufs Klo, macht sich was zu essen, wäscht ab und so fort.
Kurioserweise erledigt sich das Dasein in diesen Verrichtungen, ganz simpel und blöd ...
Ich war fasziniert.
Dieses Draußen im Theater drinnen sichtbar zu machen - das ist mein Anspruch. Auch in Wunschkonzert ist jeder einzelne Gang, jedes Türzumachen, jedes Rücken von einem Gegenstand, das Klappern mit dem Geschirr beim Abwaschen - all diese Klänge, die durch Bewegung entstehen, sind komponiert. Sie sind nicht aufnotiert, denn ich versuche da intuitiv vorzugehen, aber ich habe - wie ich das nenne - eine Bewegungspartitur hergestellt, und die Schauspielerin, von der man denkt, die macht das einfach so, hält sich an das Gerüst dieser Klänge.
Man könnte den Zustand dieser Figur auch depressiv nennen, darum frage ich mich, wollen Sie psychische Prozesse - ohne jede Psychologisierung - erfahrbar machen?
Genau das ist die Kernfrage. Mich interessieren die inneren Welten der Figuren, ich will sie nach außen, darstellbar kriegen, aber Psychologie interessiert mich nicht. Um es genau zu sagen: mich interessiert nicht, was auf dem Theater darunter missverstanden wird. Dieses sogenannte psychologische Theater hat eine lange Geschichte, und deshalb kämpfe ich auf der Probe und auch an der Ernst-Busch-Schule ...
Von der Sie selbst kommen ...
... und wo ich jetzt Regiestudenten unterrichte - ich kämpfe dagegen an, dass sie sich an "Psychologischem" abarbeiten. Keiner sagt "du kommst durch die Tür, hinter der Tür steht jemand, und dem knallst du die Tür vor den Kopf" - damit fängt doch Theater an. Nein, sie sagen, "wir spielen jetzt die Szene, und du hast ganz viel Angst, weil du weißt, dein Mann kann jeden Augenblick kommen, also wirst du immer aufgeregter". Für den Schauspieler sind solche Vorab-Beschreibungen Stress, und das Theater, ohnehin schon eine Angstveranstaltung, wird es noch viel mehr, da bereits in der Ausbildung alles schief läuft. Angst auf allen Seiten, der Regisseur hat Angst, dass er seinem Erfolg nicht gerecht wird, oder noch keinen hatte, jetzt einen haben muss, der Schauspieler hat Angst vor dem Regisseur, der Kritik, vor sich selber - Angst allerorten. Auch ich habe Angst, deshalb versuche ich, in meiner Arbeit angstfreie Räume herzustellen. Wenn ich dem Schauspieler einen Handlungsablauf gebe - "du kommst rein, setzt dich an den Tisch, nimmst das Glas, hebst es, überlegst einen Moment, ob du trinken sollst, trinkst, und stellst das Glas ab" - verliert er seine Angst. Als Regisseur bin ich dafür zuständig, dass dieser äußere Ablauf innere Vorgänge plastisch macht. Das ist eigentlich alles, das ist der Punkt. Ich erzähle die inneren Welten der Figuren durch Klänge, Licht, Raum und die Art, wie sie sich in ihm bewegen, "und du", sage ich dem Schauspieler, "du denkst, bitte schön, an gelbe Frösche, und nicht daran, einen emotionalen Zustand herstellen zu müssen".
"Gelbe Frösche" als Metapher für das, was nicht festgelegt ist?
Für das, was durch das psychologische Theater verloren ging, und was auch für jeden guten Autor der Ansatzpunkt ist - die Veränderung der Figuren. Jede Figur steigt an einem bestimmten Punkt in das Stück ein und hört an einem völlig anderen Punkt auf, das darf ich im Theater miterleben, wenn offen bleibt, wie jemand denkt, fühlt, ist. Im psychologischen Theater sind die Figuren ständig von Pathologie ergriffen, sie bibbern und leiden, schreien exaltiert und exzessiv - das sind doch Klischees von Psychologie, Klischees von Theater. Wenn es mir wirklich ernst ist in einer Auseinandersetzung, sag ich leise, "pack deine Sachen und hau ab, ich will dich nie wieder sehen", wenn ich das so spiele, bin ich wahrhaftig.
Die Angstveranstaltung Theater und die Produktion von Klischees bedingen sich?
Beides in Kombination hat sich als psychologisches Theater durchgesetzt.
Wie gehen Sie bei Ihren Regiestudenten vor?
Ich mindere den Leistungsdruck, nehme eine Szene und sage, wenn wir es in zehn Tagen schaffen, dass jeder - es sind fünf Leute - eine Anfangssituation von 30 Sekunden baut, sind wir gut: es geht mir nur um diese Anfangssituation, in der die Szene angelegt ist, an ihr arbeiten wir uns ab, ganz altmodisch. Mein Vorbild ist das Aktzeichnen, was es noch immer an Kunsthochschulen einmal die Woche gibt.
Und diese, von der Skizze ausgehende Arbeit ist mit der Theaterleitung zusammen zu bringen?
Nur darum, weil ich ein Theater leite, kann ich mich so passioniert diesen Fragen widmen. Als ich am Deutschen Theater als angestellter Regisseur einmal in der Woche Training installierte, scheiterte das an den Gegebenheiten des Produktionsortes - Training ist nicht vorgesehen.
Der Produktionsdruck lässt keinen Blick auf den Produktionsprozess zu?
Aus diesem Grund habe ich letzte Spielzeit mit den Schauspielern einen Schreib-Workshop nach dem Modell von Sarah Kane am Royal Court gemacht, denn wer einmal selber einen Text geschrieben hat, der geht anders mit Texten um. Unter unserem Produktionsdruck kommen diese Versuche zu kurz, aber um sie zu ermöglichen, bin ich überhaupt Theaterleiter geworden.
Ihr Leitungs-Ich versteht sich mit ihrem Künstler-Ich gut?
Ich fühle mich in der Probensituation - jemand verlässt den Raum und dann ist für einen Moment Stille, und dann höre ich Schritte und jemand geht leise durch die Tür und begegnet jemand anderem - geborgen, das ist meine Lust oder meine Heimat. Die Proben sind für mich Inseln, wo ich hinschwimme und mich aufhalte - danach ins Büro? Auch das ist eine Frage von Training, und von Verleugnung. "Du bist ein Meister im Verdrängen", hat mal ein Freund zu mir gesagt, das ist im privaten Bereich ja nicht so glücklich, aber im Alltag ist das mein Rettungsreifen, denn auf der Probe zu sagen, ich hab´ so einen beschissenen Tag hinter mir - das kann´s nicht bringen. Du brauchst diesen Umschalter, du brauchst dieses bisschen Spielen, auch das Regisseur-Sein ist ein Rollenspiel.
Ihre Doppelfunktion, Regisseur und Intendant, gerät mit dem Ensemblegedanken der Schaubühne, mit seinem Gleichheitsbegriff, nicht in Konflikt?
Nicht, wenn ich die Schauspieler begleite, ihnen mit Respekt gegenüber trete und sie als Künstler begreife, die versuchen, ihre eigenen Ausdrucksformen zu finden. Ihnen dabei ein Feedback zu geben, und auch die Möglichkeit, sich prominent zu präsentieren, das ist das, was jeder Schauspieler am meisten will.
Über den Technik- und Verwaltungsapparat haben Sie mal gesagt, er ist ein schwarzes Loch, was alles schluckt - haben Sie dafür eine Lösung?
Gar keine.
Gar keine?
Nee.
Lässt sich da nichts verändern?
Nee - das ist ein Dickicht. Wir müssen an einem Haus, was sich Peter Stein völlig anders dachte - nämlich acht Monate Drei Schwestern zu probieren und das dann zehn Monate durchzuspielen - wir müssen hier einen Repertoire-Spielplan implantieren, und da hakt es an allen Ecken und Enden, unsere Techniker-Mannschaft ist so klein, wie die der Kammerspiele des Deutschen Theaters, wir müssen aber drei Bühnen mit ihr bespielen.
Also, kein aufgeblähter Technik- und Verwaltungsapparat - im Gegenteil. Und wenn die Schaubühne ihr Einnahmesoll nicht erbringt, wird sie laut Senat geschlossen.
Wir sind das Theater mit dem höchsten Einnahmesoll in Berlin, was wir ein ums andere Jahr auch erfüllen: durch unsere Gastspieltätigkeit, wir sind ständig unterwegs.
Was zum Repertoire- und Ensembletheater im Widerspruch steht.
Es ist unsere einzige Überlebensstrategie.
Warum also überhaupt das Medium Theater?
Weil ein Gesamtgebilde aus Klang und Bewegung nur in diesem Medium möglich ist. Für mich liegt da - gegenüber dem Film - die größere Herausforderung. Ein Film entsteht beim Schneiden, was ich gemacht habe, nachdem wir Nora fünf Tage lang mit acht Kameras aufgenommen hatten, aber ich fand nichts einsamer als den Schneideraum. Ich brauche diese Hitze und das Gefühl, da sitzen noch drei, vier Leute neben mir, Maske, Kostüm, und so fort, und vorne agieren die Spieler - diese ganze Gruppe von Leuten zum Vibrieren zu bringen, das macht meine Lust aus. Filme entstehen im Schneideraum, das ist unerotisch, weil nicht mehr mit lebenden Menschen gearbeitet wird.
In "Woyzeck" ist der Zuschauerraum in den Bühnenraum als Teil der verstädterten Müll-Landschaft einbezogen: Kulminiert das Gesamtgebilde Theater für Sie in der Plastizität des Raums?
Absolut. Ich arbeite meistens mit einem Architekten, also einem Raumgestalter zusammen, und wenngleich wir ein ums andere Mal unseren Ansprüchen nicht genügen und ich fast - wie bei Wunschkonzert - die reliefartige Zweidimensionalität wieder aufsuche, ist es ganz bestimmt so: Klang, Bewegung, Gänge und Vorgänge auf der Bühne, all das wird erst wirklich zum Klingen gebracht, wenn es sich im Raum aufeinander beziehen kann. Das wird immer mehr zu einer Passion von mir, ich denke ganz viel darüber nach, wie stark sich die meisten Aufführungen, die ich sehe, in ihrem räumlichen Arrangement im Klischee aufhalten, ohne ein Bewusstsein davon, dass die von mir so genannte dramatische Grundstellung - zwei Gegenüber, die sich anbrüllen - nicht eingenommen werden muss, doch in 90 Prozent der Fälle wird Konflikt so inszeniert. Dabei kann der Schauspieler von hinten wesentlich interessanter sein, auch für das Publikum ist es wesentlich spannender, wenn ich ihm mein Gesicht nur ganz kurz mal schenke, nur in wenigen ausgesuchten Momenten. Das mache ich alles sehr bewusst, das ist kein Triumph des Naturalismus, es hat mit Raum und Raumgestaltung zu tun. Ich beschäftige mich die ganze Zeit damit, Dinge zu figurieren, zu komponieren, und sie zusammenzusetzen. Da ist nichts, dass ich mal sage, ja, überleg dir doch, wie´s bei dir zuhause ist, wie du jetzt - als diese Figur - zuhause wärst, da ist alles gesetzt, alles ausgedacht, bloß halt nicht mit dem Holzhammer. Es hat nichts mit Formalismus zu tun, aber es ist alles Form.
Und wie hängt das mit dem "Pathos eines theoretischen Ansatzes" zusammen, von dem Sie mal in "Theater Heute" gesprochen haben?
Meiner Generation wird unterstellt, dass sie nichts mehr will - ich empfinde es darum als pathetisch, etwas zu wollen. Pathos ist ein Wort, wo man sagt - Vorsicht, Pathos ist auch auf deutschen Bühnen nicht mehr möglich, dennoch oder eben darum: es ist einfach pathetisch, einen theoretischen Ansatz zu haben, der von der Analyse der gesellschaftlichen Situation ausgeht und sagt, wir versuchen mit dieser Analyse umzugehen, wir suchen Wege, die das und das befragen oder Infragestellen, das ist pathetisch, es ist ein Gründungsakt. Sein Pathos besteht ja darin, dass man sagt, wir gründen etwas, woran wir glauben, wir glauben an unsere Analyse, wir glauben an unseren Versuch, die Wirklichkeit zu befragen, das ist irrsinnig pathetisch, denn unsere Gründungsakte beschränken sich längst auf Internetfirmen, und das ist halt ein bisschen armselig.
Biotech ...
Biotech - da ist es eben pathetisch, wenn man sagt, hier wird ein Theater ausgerufen. Unser Streitraum, der mittlerweile ein in dieser Stadt verankertes, bereits zur Zeit der Baracke installiertes Forum ist, hat den Anspruch: "Ich will im Theater nicht verblöden". Ich habe nach wie vor den gehegten Wunsch, Kategorien zu entwickeln, damit ich weiß, auf welchem Niveau ich beim Beschreiben der Wirklichkeit scheitere, denn beim Versuch, der Wirklichkeit wahrhaftig zu werden, würde ich gern auf einem sehr hohen Niveau scheitern. Ich erfahre es als leidvoll, dass wir uns damit abgefunden haben, auf einem sehr niedrigen Niveau einen Konsens herzustellen, etwa so "das können wir sowieso nicht verstehen, das können wir sowieso nicht ändern, und wer weiß, wer da noch alles dahintersteckt". Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien, aber ich glaube, dass das Prinzip von try and error, kraft dessen der Kapitalismus bisher am besten überlebt hat, mittlerweile dazu führte, dass man sich in einer Situation, wie wir sie haben, sehr gut einrichten kann, ohne dass politische oder ökonomische Verantwortlichkeiten noch zu einem Aufruhr oder zu einer Bestürzung führen, aus der heraus man sagt, "das gibt´s doch gar nicht, das darf doch nicht wahr sein, das kann doch nicht sein". Dieser neu-ironische Standpunkt, "es ist doch eh klar, dass die so abgefuckt sind, brauchst du mir doch nicht erzählen, weiß ich doch schon alles", reproduziert nur die Bilder, die auf unserer Netzhaut eingebrannt sind - und da genau hinzugucken, wie beim Aktzeichnen, und den Blick zu schulen, darum geht es mir.
Kann man sagen, so wie die Skizze dem Bild vorausgeht, so unterlaufen Sie beim Machen von Theater das Theater, von da aus bleibt der Herstellungsprozess einer Aufführung transparent?
Ich setze die Wirklichkeit aus ihren eigenen Details innerhalb eines Stücks, eines Ausschnitts von Wirklichkeit, neu zusammen, dabei zeige ich, woraus sie besteht.
Form heißt nicht Bild, Sie gehen hinter das Bild zurück.
Ich frage immer nach der Anfangssituation einer Szene, denn sie ist es, die der kulturellen Mythenbildung unterliegt.
Das Gespräch führte Gerburg Treusch-Dieter
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