Frankenstein

Tödliches Drehbuch Nein zum Krieg

Wenn die Wirklichkeit wie ein Kartenhaus zusammenstürzt, sieht sie wie vertrauter Science-Fiction aus. Die Katastrophenfilme made in Hollywood sind für unsere Wahrnehmung der wirklichere Teil der Wirklichkeit, sie nehmen die Zukunft vorweg und erschaffen sie zugleich. Die Filmproduktion ist wie das Visualisieren, wie das Wunsch- und Angstdenken, das uns dann einholt. Wenn das World Trade Center im Fernsehen vor unseren Augen zu Staub zerfällt, ist es wie ein Déja-vu. Eine Filmszene, in der sich ein Passagierflugzeug ins Symbol der Wirtschaftsmacht einbohrt und darin explodiert ist etwas für den Halbwüchsigengeschmack. Als Wirklichkeit ist es ungeheuer. Trotz seiner Einfachheit und Epigonenhaftigkeit. Die Terroristen produzierten keine neue Waffe, sie bedienten sich der glorreich errichteten Dinge ihres Feindes - Wolkenkratzer, Pentagon und der Flugzeuge. Sie änderten bloß den Kurs der steuerbaren Dinge, wobei sie unterhalb des Kontrollsystems, des common sense, flogen, unter der Gürtellinie. Sie änderten die gewohnte Führung, und damit auch die der Welt. Und sie besaßen etwas, was ihrem Feind fehlt - die Todesverachtung. Sie brachen gleich mehrere Tabus - auch das macht uns fassungslos.

Zunächst haftet der Katastrophe etwas Absurdes an, als würde sie sich über Hollywood mokieren. Wo sind wir? Im Kino des Lebens? Das bestialische Hirn der Terroristen lässt töten und Amerika in Schrecken versetzen - berechnend nach der Art der amerikanischen Filme, medienwirksam, als wäre ein durchschnittsbegabter Regisseur unserer Durchschnittsängste am Werk. Und es geht nach Drehbuch weiter. Schon strahlt man die Reden der Präsidenten der mächtigen Westländer aus, die sich in ihrer Spracharmut so gleichen, als hätte der Drehbuchautor einen Text in verschiedene Sprachen übersetzt. Sogar ins Russische. Wladimir Putin ist auch dabei, der ehemalige KGB-Spion und Verantwortliche für den aktuellen Genozid am tschetschenischen Volk ist nicht mehr der Feind des Westens. Er redet vom vereinten Kampf gegen den internationalen Terrorismus, erhofft sich Unterstützung für seine koloniale Metzelei im Nordkaukasus, das Schweigen der Kollegen dazu hat er schon.

Die Präsidentenrunde trägt Anzüge zu glattrasierten Gesichtern und spricht einmütig vom Angriff des Feindes gegen die "zivilisierte" Welt. Dann zeigt man einen hinkenden, bärtigen Mann, der aus seinem Zeltversteck heraustritt, und sich vor nichts als sein Maschinengewehr setzt. Er ist todesbessesen, mit einer Wachsmiene spricht er von Särgen mit amerikanischen Leichnamen. Dann Blende zu den betenden Afghanern und den vermummten Palästinensern, die erklären, sie seien bereit, als Kamikaze für die Sache ihres Volkes zu sterben. Würde man die Szenen nicht unter "Nachrichten" anbieten, könnte man sich jetzt aus der Küche ein leeres Sandwich zu diesem Hollywoodschinken holen. Dann wird es aber aufschlussreich, ein Experte erklärt, dass der Feind Nr. 1 der amerikanischen Regierung, der Saudiaraber Usama bin Laden, während des Kalten Krieges mit Geld und Logistik von derselben Regierung gefüttert wurde, um in Afghanistan den damaligen Moskauer Feind zu bekämpfen. Hat ein undankbarer Ziehsohn, ein eigens gebastelter Frankenstein zurückgeschlagen?

Wie die Tage vergehen wird das Drehbuch global und todernst. Der US-Präsident Georg Bush definiert sich öffentlich als das zum Vergeltungsschlag bereite Gute und erwartet vom Rest der Welt, darin bestätigt zu werden, nach dem Motto: wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich. Solche Politiker haben vor, moderne Märchen von Gut und Böse zu verwirklichen, und das ist mörderisch für uns alle. Wenn noch die freie Berichterstattung es distanzlos übernimmt, werden Begriffe der Machthaber wie "unsere freie Welt" zu Zeichen einer Diktatur. Nach dem 11. September ist die Chance, dass wir nun zivilisiert werden, da - das heißt, dass wir uns das unabhängige Denken der Bürger und Bürgerinnen bewahren - in einer Welt erschüttert von der reality show, oder besser - erschüttert von der Wirklichkeit und im Bewusstsein der Schopenhauerschen "Welt als Wille und Vorstellung". Lassen wir uns die Denkpause und das Handeln vor der nächsten Katastrophe nicht nehmen. Boykottieren wir das einfältige Drehbuch.

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