Viktor Orbán ist der Pionier des Populismus an der Macht in Europa. 2010 errang seine Partei Fidesz eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Dies reichte, um die Verfassung zu ändern und schließlich durch ein neues, allein von der Regierungspartei getragenes „Grundgesetz“ zu ersetzen. Fidesz baute systematisch den Rechtsstaat um: So wurden beispielsweise ältere Richter zwangspensioniert und Gerichte je nach Bedarf erweitert, damit man die eigenen, parteinahen Leute in die wichtigen Positionen hieven konnte.
In einem zentralisierten Land, in dem das Parlament nur eine Kammer und ein von der Volksvertretung gewählter Präsident relativ wenig Macht hat, war das Verfassungsgericht nach 1989 das entscheidende Gegengewicht zu Exekutive und Legislative gewese
ive gewesen. Die ungarischen Verfassungsrichter hatten sich Karlsruhe zum Vorbild genommen und schufen über die Jahre ein leidlich funktionierendes System von checks and balances. Damit ist es heute vorbei. Verfassungsgericht und Oberstes Gericht werden Orbán beim Aufbau des von ihm deklarierten „illiberalen Staats“ keine Steine in den Weg legen.Fidesz war Ende der 1980er Jahre von Jurastudenten gegründet worden. Und bis heute legt man Wert darauf, dass alles, was aus rein machtpolitischer Räson unternommen wird, formal korrekt aussieht. So nahm man Gesetze, die vom Verfassungsgericht moniert wurden, flugs in die Verfassung selber auf – und war scheinbar fein raus. In Polen ging all dies nicht: Jarosław Kaczyńskis Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hatte zwar im Herbst 2015 als erste nach dem Ende des Staatssozialismus eine absolute Mehrheit errungen, verfügte aber nicht über genügend Abgeordnete, um nach Gutdünken die Verfassung zu ändern. Zwar hatte Kaczyński genau wie Orbán immer wieder behauptet, die Revolution von 1989 sei von postkommunistischen Wendehälsen gestohlen worden, doch schien er keine Chance zu haben, sein Projekt einer „Vierten Republik“ auf legale Weise zu realisieren.Pfauentanz für die MedienDoch sollte die PiS Europa und der Welt eine Lektion erteilen, was sogar innerhalb der EU alles möglich ist. Mit beispielloser Brutalität wurde zuerst das Verfassungsgericht ausgeschaltet. In der vergangenen Woche brachte man dann drei Gesetze durch den Sejm, die mit der Unabhängigkeit der Justiz prinzipiell Schluss machen. Zwar legte Präsident Andrzej Duda, an sich ein getreuer Kaczyński-Mann, am Montag sein Veto bei zweien dieser Gesetze ein (das dritte ist mit dem Prinzip der Gewaltenteilung eigentlich auch nicht vereinbar), aber die Annahme, die PiS werde nun einfach aufgeben, ist naiv. Schon bei den Angriffen auf das Verfassungsgericht hatte man sich am Ende billigster Tricks bedient. Unliebsame Beschlüsse des noch unabhängigen Gerichts, welche die Abschaffung des Rechtsstaats noch verhindert hätten, wurden einfach nicht veröffentlicht und erlangten somit aus Sicht der PiS keine Gültigkeit.Orbán hatte sich immerhin noch die Mühe gemacht, einen „Pfauentanz“ (Orbán über Orbán) aufzuführen: Er machte drei autoritäre Schritte nach vorn und, wenn die EU sein Vorgehen monierte, zumindest einen Schritt zurück. Zumal zeigte der Pfau auf internationalem Parkett immer liberaldemokratische Farben. Zu Hause aber tat er dann, was ihm beliebte.Die PiS-Regierung kultiviert einerseits eine neue Schamlosigkeit. Doch bleibt sie in zweierlei Hinsicht dem „Budapester Modell“ treu: Kritik von Seiten Brüssels wird immer sofort mit dem Argument abgeschmettert, Warschau wahre die Souveränität Polens. Und man bedient sich ausgiebig selektiver Vergleiche, um die eigenen autoritären Initiativen als ganz harmlos ausschauen zu lassen. Die PiS-Regierung behauptet ständig, ihre Vorstellungen darüber, wie man am besten Richter ernenne, deckten sich mit Praktiken, die in Deutschland gang und gäbe seien. Die Sozialwissenschaftlerin Kim Lane Scheppele hat den Begriff „Frankenstaat“ geprägt, um dieses Vorgehen zu beschreiben: Im Einzelnen betrachtet scheinen neue Institutionen ganz normal. Als Ganzes aber ist der von Orbán und Kaczyński zusammengesetzte Staat ein autoritäres Monster, wie von Victor Frankenstein geschaffen.Placeholder infobox-1Es ist kein Zufall, dass derzeit in vielen Ländern, von Erdoğans Türkei bis zu Maduros Venezuela, die Gewaltenteilung entweder de facto ausgehebelt oder gleich ganz abgeschafft wird. Denn in all diesen Staaten regieren Populisten. Und Populisten behaupten stets, sie und nur sie verträten das Volk – oder was sie häufig als „das wahre Volk“ bezeichnen. Kritik an diesen Regierungen seitens unabhängiger Institutionen wie Gerichten kann dann immer mit einem zumindest demokratisch klingenden Argument brüsk zurückgewiesen werden: Sie, entrüsten sich die Populisten, seien schließlich gewählt. Wer aber habe die Richter autorisiert, sich dem Volkswillen entgegenzustellen?Nun lässt sich Gewaltenteilung nicht mit ein paar beiläufigen Zitaten von liberalen Klassikern der politischen Theorie wie Montesquieu oder John Locke rechtfertigen. Über die Macht von Verfassungsgerichten kann man mit guten Gründen streiten. In den USA etwa wogt eine heftige Debatte darüber, ob der Supreme Court mit seinen Letztentscheidungen über hochpolitische Fragen wie Abtreibung und Wahlkampffinanzierung nicht eine eindeutig undemokratische Rolle spiele. Linksliberale Juristen argumentieren, dass Länder wie Großbritannien und Neuseeland gar keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen – und doch vorbildliche Demokratien seien, in denen die „Würde der Gesetzgebung im Parlament“ (so der Rechtsprofessor Jeremy Waldron) statt oft willkürlicher Richterentscheidungen hochgehalten werde.In der Tat ist es frappierend, wie oft amerikanische Jurisprudenz darauf hinausläuft, die Argumente so zurechtzuschustern, dass sie vielleicht dem mal nach links, mal nach rechts tendierenden Richter in der Mitte des ideologischen Spektrums des Supreme Court gefallen könnten – ein gelinde gesagt sehr subjektiver Ansatz, der mit den Idealen einer unpersönlichen rule of law nicht ohne weiteres konform geht.Die demokratietheoretisch inspirierten Sorgen über zu viel Richtermacht – von manchen als „Juristokratie“ bezeichnet – sind aber nicht ohne weiteres auf Länder wie Polen und Ungarn übertragbar. Denn die Populisten mit ihrem moralischen Alleinvertretungsanspruch erkennen letztlich keinerlei Opposition an. Sie sprechen den anderen Parteien im Parlament ab, auch Volksvertreter zu sein. Sie dulden keinerlei Widerspruch von Gerichten – und sie haben stets spezielle Argumente, um die Rolle von Richtern zu entwerten: Silvio Berlusconi diffamierte sie als „rote Roben“, die nur Kommunisten dienten. Kaczyński behauptet dagegen seit Jahren, die Judikative in Polen werde von einem „Netzwerk“ ehemaliger Kommunisten kontrolliert.Legitime Entscheidungen der Legislative beruhen auf einer Debatte mit einer als Alternative anerkannten Opposition. Wie der Staatsrechtler Christoph Möllers betont hat, verläuft die Gewaltenteilung auch quer durch ein Parlament, in dem die Minderheit das Recht hat, einer Regierung Fragen zu stellen und Informationen zu fordern. Denker wie Jeremy Waldron verweisen daher auch immer wieder auf die Qualität der parlamentarischen Auseinandersetzung in London. In Warschau hingegen lässt der de facto von Kaczyński ernannte Sejm-Marschall Ordnungskräfte aufmarschieren, um die Opposition mit ihren „Verräterfressen“ (Originalton Kaczyński) einzuschüchtern.Keine innere AngelegenheitEs ist zudem bezeichnend, dass auch die Vierte Gewalt immer gleich von Populisten an der Macht angegriffen wird: Öffentliche Medien werden wie in Ungarn und Polen mit treuen Parteisoldaten besetzt. Die PiS-Regierung forderte ganz offen, die Rolle von Fernsehen und Rundfunk bestehe darin, das nationale Interesse zu fördern. Diese Rhetorik ist historisch nicht neu: Auch der plebiszitär legitimierte Napoleon III. fragte Mitte des 19. Jahrhunderts Kritiker unter Juristen und Journalisten, wer sie denn eigentlich gewählt habe. Und sie ist keineswegs auf junge, scheinbar noch unerfahrene Demokratien beschränkt. Der Chefberater von Donald Trump verstieg sich Anfang des Jahres zu der Behauptung, die Medien seien „Feinde des Volkes“.Doch eines überrascht auch aus historischer Perspektive – nämlich als wie machtlos sich die supranationalen Hüter der Rechtsstaatlichkeit bisher erwiesen haben. Nicht nur trauen sie sich nicht, das in der EU vorgesehene Sanktionsmittel für andauernde Verstöße gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen – nämlich den Entzug der Stimmrechte einer Regierung im Europäischen Rat. Sie geben auch kein effektives Kontra, wenn die selbsternannten „illiberalen Demokraten“ in Budapest und Warschau behaupten, sie verteidigten die nationale Souveränität und würden sich jegliche Einmischung in innere Angelegenheiten verbitten.Die Union ist vor allem eine Rechtsgemeinschaft, in der sich die Mitgliedsstaaten gegenseitig vertrauen können: Entscheidungen von Gerichten in Polen müssen auch in Deutschland anerkannt werden. Zudem sind nationale Gerichte auch immer gleich EU-Gerichte, denn sie wenden das, was die Institutionen in Brüssel beschließen, direkt in ihren Ländern an. Es gibt also gar keine inneren Angelegenheiten. Was in einem Mitgliedsstaat vor sich geht, betrifft alle Bürger mit dem bordeauxroten Pass.Auch in Europa gibt es nicht die allein seligmachende richtige Balance zwischen Judikative und den anderen Gewalten – die EU-Verträge erkennen ja die Vielfalt der politischen Systeme als Teil der verschiedenen nationalen Identitäten ausdrücklich an. Aber in Staaten, wo populistische Regierungen Wahlmechanismen zu ihren Gunsten verändern, kommt den Gerichten eine besondere Rolle beim Schutz der demokratischen Grundrechte zu. Es ist daher fatal, wenn EU-Vertreter immer nur von Gefahren für den Rechtsstaat reden – als handele es sich bei der Kommission um eine Art Reparaturtrupp aus Brüssel, der eine Fehlfunktion im Rechtsstaat zu beheben sucht, während die nationalen Regierungen den Begriff der Demokratie unwidersprochen für sich in Anspruch nehmen können.Wenn für die Demokratie essenzielle Rechte wie Rede- und Versammlungsfreiheit von populistischen Regierungen eingeschränkt werden, darf man nicht so tun, als sei das Ganze nur ein technisches Problem, das EU-Kommission und eine mitgliedsstaatliche Regierung mit genügend gutem Willen schon gemeinsam lösen würden. Populisten verfolgen die Vorstellung einer einheitlichen Staatsgewalt auf der Basis des vermeintlich einen authentischen Volkswillens, den angeblich nur sie repräsentieren. Verteidiger der Demokratie müssen sich dieser Vorstellung entschieden entgegenstellen.Placeholder authorbio-1Placeholder link-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.