Frankfurter Krebsgang

Verschweigen Günter Grass hat der politischen Kultur geschadet

Selten hatte man Günter Grass so fröhlich gesehen. Als der Lübecker Ende September 1999 im Stockholmer Stadthuset den Nobelpreis für Literatur entgegennahm, erlebte die Welt ihn als Ausbund von Energie und Glück. Bis in den frühen Morgen tanzte der Ausgezeichnete die wesentlich jüngere Festgemeinde in Grund und Boden. Natürlich war da ein Hedonist in seinem Lebenselement. Doch womöglich verdankte sich die Ausgelassenheit des Plebejers im Frack auch einem Antrieb, den keiner kannte, einem geheimen Triumph. Seht her. Einer wie ich kann es bis ganz nach oben schaffen. Trotz dieser Vergangenheit ...

Die demonstrative Freude damals an dem späten Sieg über den Makel einer Biografie hätten wir gerne mit Grass geteilt. Doch dazu hätten wir von diesem wunden Punkt wissen müssen. Jetzt kehrt sich alles um und die Geschichte, dieses "verstopfte Klo" (Grass), fordert ihr Recht. Nicht auszuschließen, dass der Moralist in den durch sein FAZ-Interview aufgepeitschten Fluten versinkt wie die Passagiere des torpedierten Kriegsschiffes Wilhelm Gustloff, die sich Ende Januar 1945 aus Ostpreußen heim ins Reich retten wollten - Helden von Grassens letztem Buch Im Krebsgang aus dem Jahr 2002.

Es ist nicht so sehr das verschwiegene Detail an sich, das Grass nun bis zum Lebensende beschweren wird wie ein Mühlstein. Welchem Mann wollte man heute die Verhältnisse ankreiden, in die er vor knapp 60 Jahren hineingeraten war. Es ist vielmehr der Zeitpunkt seines Bekenntnisses. Dass der in Sachen NSDAP-Mitgliedschaft erinnerungsschwache Walter Jens den denkwürdigen Akt für richtig terminiert hält, weil "vorher manches besserwisserisch erschienen" wäre, ist hoffentlich kein Indiz für die Erinnerungskultur in diesem Land.

Verglichen mit dem Flakhelfer Martin Walser, dem die "Dauerrepräsentation unserer Schande" bekanntlich auf die Nerven geht, hat Günter Grass gezeigt, wie man aus der Vergangenheit lernen und in Sachen Bewältigung hartnäckig bleiben kann. Und was er über die deutsche Wiedervereinigung gesagt hat, wird nicht falsch, weil er ein wichtiges Detail seiner Biografie bewusst verschwiegen hat. Doch welches Licht wirft es auf die Aufrichtigkeit von einem, der gern Donnerworte in "Bewältigungs"-Debatten schleuderte, wo das leise Selbstbekenntnis gefragt gewesen wäre? Nicht nur ein Titan des Typus "engagierter Intellektueller" ist angeschlagen. Das moralische Reden in Deutschland insgesamt, das Grass unbeirrt praktizierte, als viele es längst im Orkus des Posthistoire verklappten, wird nach diesem Geständnis noch lange unter dem Verdacht der Doppelbödigkeit stehen. Diesen Schaden hat Grass der politischen Kultur in Deutschland auch zugefügt.

Das Betrüblichste an dieser Detonation mit Langzeitwirkung ist jedoch die Selbstgerechtigkeit, mit der Grass sein Ver-Schweigen brach. Nicht nur, dass er mit der früher geschmähten Zeitung der "Herrschenden" ein spektakuläres Interview samt Vorabdruck einfädelte, die das Geständnis wie einen zweckdienlichen Mediencoup wirken ließen. Der Verteilungskampf im literarischen Feld ist härter geworden, verlangt immer höhere Einsätze, notfalls eben die eigene Biografie. Im Krebsgang nach Frankfurt inszeniert Grass sich auch, als buhle er um Mitleid, ja Beifall für die Mühsal der Erinnerung. Jahrelang hätten ihn Schuldgefühle geplagt, so Grass. Doch dann habe er darüber schreiben müssen. Aber wie? "Ich mußte eine Form für dieses Buch finden, das war das Schwierigste daran ... Ich wollte davon erzählen. Denn das ist meine Sache". Dass Grass das Politikum seines Geständnisses vor allem als Problem der ästhetischen Form, als Schlussstein eines Lebens und im Buch sieht und kein Wort des Bedauerns über die politisch-moralische Fehlleistung findet, jetzt gar eine Kampagne wittert, ihn zur "Unperson" zu machen, nur weil man diesen Widerspruch hinterfragt, das dürfte dann selbst dem treuesten Grass-Fan die Tränen in die Augen treiben.


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