Dass das Geschlecht keine simple Angelegenheit ist, weiß man. Die Vorstellung von nur zwei Geschlechtern ist zu eindimensional, um wahr zu sein. In den vergangenen Jahren kamen Biologen den komplexen Dimensionen auf die Spur. In einem Artikel im Wissenschaftsmagazin Nature gab die Journalistin Claire Ainsworth nun einen Überblick über den neuesten Stand der Forschung.
Der Körper galt einst als das Kriterium der Wahrheit auf der Suche nach dem Geschlecht, und das Y-Chromosom war das zentrale Merkmal: Hast du es, dann bist du männlich, fehlt es dir, dann bist du weiblich. Doch nicht wenige Menschen sind Grenzgänger. Was ist die Ursache dafür? Das biologische Geschlecht kann sehr unterschiedlich zusammengesetzt sein. Chromosomen, Gonaden (also Eierstöcke bzw. Hoden), Genitalien und andere körperliche Merkmale können sich mischen, sodass etwa die Chromosomen einer Person als männlich, ihre Gonaden hingegen als weiblich bestimmt werden. Das wird als Disorders of Sex Development (DSD), als Störung der Geschlechtsentwicklung definiert. Man nimmt an, dass jeder hundertste Mensch von der einen oder anderen Form einer Geschlechtsabweichung betroffen sein könnte.
Neuere biologische Analysen zeigen aber, dass fast jeder und jede aus einem Patchwork genetisch unterschiedlich bestimmter Zellen zusammengesetzt ist. Wenn Biologen in einzelne Zellen zoomen, wird es sehr kompliziert, denn die gängige Vorstellung, jede Zelle eines Individuums besitze dasselbe geschlechtliche Set, ist heute nicht mehr haltbar. Die Zellen eines Menschen unterscheiden sich in der genetischen Ausstattung und bilden quasi ein geschlechtliches Mosaik. Das Fazit von Ainsworth: „Unsere Vorstellung von zwei Geschlechtern ist allzu simpel – nicht nur aus anatomischer, sondern auch aus genetischer Sicht.“
Zunehmend erkennen auch Mediziner, dass Menschen nicht in eine binäre Struktur passen. Der Arzt kann Hormone, Zellen und Chromosomen bestimmen – doch was, wenn die Ergebnisse sich widersprechen? „Da meines Erachtens kein biologischer Parameter einen anderen auszustechen vermag“, sagt Eric Vilain, Arzt am Center für Gender-Based Biology in Los Angeles, „scheint mir letzten Endes die Geschlechtsidentität der vernünftigste Parameter zu sein.“ Fragen Sie also nicht Ihren Arzt, Ihre Ärzt_in oder Ihrx ArztX, ob jemand Frau oder Mann ist. Fragen Sie direkt nach bei ihr, bei ihm, bei es. Risiken und Nebenwirkungen? Die Antwort könnte Sie verwirren.
Kommentare 6
Dass ein Denken in ausschließlich männlich.weiblich zu eindimensional ist, ist ja schon lange kein Geheimnis mehr; es ist natürlich nett, wenn die Medizin das nun auch noch untermauert, wird aber an unserem Umgang mit dieser Tatsache wohl nicht viel ändern.
Sehr gut, sehr interessant. Ein Grund mehr warum Genderforschung so wichtig ist. Könnte man noch einen Link zu besagtem Artikel bekommen, oder zu medizinischen Artikeln die diesen Forschungsstand aufgreifen?
Danke.
Wir haben die deutsche und englische Version des besprochenen Artikel im Text verlinkt.
Fragen Sie also nicht Ihren Arzt, Ihre Ärzt_in oder Ihrx ArztX, ob jemand Frau oder Mann ist. Fragen Sie direkt nach bei ihr, bei ihm, bei es. Risiken und Nebenwirkungen? Die Antwort könnte Sie verwirren.
Verwirrung ist die Vorstufe zur Erkenntnis.
Nicht jede Verwirrung führt zu Erkenntnis, weiß Gott nicht. Aber eine Erkenntnis ohne vorherige Verwirrung - ich glaub, das gibt’s nicht.
Das Schöne an der verschwimmenden Grenze zwischen Mau und Frann ist, daß für einen sogenannten "Mann" die Gefahr deutlich geringer wird, frauenfeindlich zu sein. Für irgendwas, denk ich mir, muß Wissenschaft ja gut sein.
Ciao
Wolfram
Ja, nicht genetisch 100%ig eindeutig. Ändert nichts daran, dass die typischen Geschlechtsmerkmale (physische und psychische) sich Glockenkurvenförmig verteilen und zwischen Männern und Frauen diese Kurven auseinanderliegen, wenngleich es Überschneidungen gibt (wobei ich mal großzügig ignoriere, dass es schwieriger wird, Mann und Frau eindeutig zu definieren).
So zu tun, als ob beide Geschlechter im Prinzip dasselbe sind (gender-mainstreaming), bleibt der Unsinn, der es immer war. Der Tatsache, dass es Mischformen gibt (wenn auch zahlenmässig gering) sollte allerdings Rechnung getragen werden.
Kommt mir vor, wie die Panik-Meldungen des BUND: Dies oder DAS im Wasser gefunden!
Wenn man dann weiter liest, kommt heraus, dass lediglich die Nachweistechnik empfindlicher geworden ist und die Grenzwerte trotzdem nicht überschritten werden.
Ein Tip aus der Praxis:
Wer misst, misst Mist.
Wer viel misst, misst viel Mist.
Immerhin hat dieser Mischmasch einen großen Vorteil:
Er eliminiert den Gender Pay Gap!