Frauenschürzen und Kinderhosen

MEXIKO/USA Über das Grenzdasein der texanischen Provinzstadt Brownsville

Es ist wie gewohnt ruhig in Brownsville an diesem Abend, die Grillen zirpen. Hin und wieder beschleunigt ein anfahrender LKW. Die Nachtposten der border patrol, der texanischen Grenzpolizei, stehen am Rio Grande und beobachten die Ufer des dahindümpelnden, braunen Flusses. Plötzlich raschelt es gegenüber im Schilf auf der Seite, die noch zu Matamoros, zu Mexiko, gehört. Drei Jungen springen in den unterschenkeltiefen Fluss, der seit 1863 die natürliche Grenze zwischen Mexiko und den USA bildet. Sie durchwaten den zehn Meter breiten Wasserlauf, klettern ans andere Ufer, auf US-amerikanisches Staatsgebiet. Alles geschieht blitzschnell, in dunkler Nacht. Plötzlich gibt es ein leises Signal, Taschenlampen blitzen auf. Die drei - nicht älter als zwölf - rennen, als wäre dies hundertmal erprobt, in verschiedene Richtungen. Wenig später sitzen zwei von ihnen im grünen Jeep der Jäger, um wieder einmal ihre Personalien anzugeben. Der dritte, der Geschickteste, klettert indes über den arg ramponierten Zaun an der Brücke und verschwindet in der menschenleeren Innenstadt von Brownsville, von den Jägern verfolgt.

"Sollen wir sie denn erschießen?" fragt Bruce Dawson, der Grenzpolizist

Wenig Zeit später steht Carlos, lächelnd, in zerlumpten Kleidern, abgehetzt vor seinen Verfolgern. Sie kennen sich. Bruce Dawson streicht dem noch Atemlosen über den Kopf, sagt kaugummikauend etwas auf spanisch zu ihm. "Ihren Namen kennen sie", sagt Dawson dann, "aber einen festen Wohnsitz haben sie nicht, meist auch keine Eltern." Straßenkinder also, größtenteils Analphabeten, denen auch das Papier mit den gedruckten Einreisebedingungen der USA nur ein gleichmütiges Achselzucken entlockt.

Bruce Dawson, mehrfacher Familienvater, der seit etlichen Jahren bei der border patrol ist, wirkt nicht wie ein Jäger, eher wie ein Staatsbeamter mit Skrupeln, ein weichherziger, mitleidender. US-amerikanischen Boden zu betreten, sagt er, sei für viele Mexikaner nach wie vor eine große Verlockung. Sie kommen, um Arbeit zu suchen und finden zumeist nur Stunden- oder Tagesjobs als Hafenarbeiter, Blumengießer oder Autowäscher.

Carlos lächelt, weil er wieder einmal verloren hat und weil er eigentlich nichts zu verlieren hat. Seine Hosen sind zerrissen, unter den Fuß- und Fingernägeln staut sich der Dreck, das zu enge, nasse T-Shirt hat unter den Achseln jeweils ein Loch. Wie schon seine Freunde wird auch er über die Grenzbrücke gefahren und irgendwo in Matamoros aus dem Wagen gelassen. Kurze Zeit später wird er sein Glück ein weiteres Mal versuchen. "Sollen wir sie den erschießen?" fragt Bruce Dawson. Am Rio Grande wiederholen sich Tag für Tag die gleichen Szenen. Die Jäger kennen die Tricks, die Zöllner auch. Stichprobenartig öffnen sie die Kofferräume der Autos, ein beliebtes Versteck. "Uns fehlen 50 Männer", meint Gabe Bustamente, Dawsons Chef, "und das Schlimmste ist: Wir können die Mexikaner verstehen, die dem Elend da drüben entfliehen wollen." Bustamente leitet die örtliche Border-patrol-Station in Brownsville und ist ein unglücklicher Mensch, latinostämmig, innerlich zerrissen. Wie auch soll man zwischen 80 Prozent US-amerikanischen Mexikanern, die alle in Browns ville geboren sind, und illegal ins Land gekommenen Mexikanern unterscheiden, die allesamt schwarze Haare haben, dunkle Augen, die spanisch ebenso wie englisch sprechen? - "50.000 Menschen stellen wir jedes Jahr, etwa 100 pro Tag. Die Mexikaner werden über die Brücke zurückgeschickt, die anderen - Salvadorianer oder Nikaraguaner - auf Staatskosten in ihre Heimatländer ausgeflogen."

Bustamentes 65 Männer kontrollieren rund um die Uhr 75 Meilen im Rio-Grande-Tal, selten nur brauchen sie Verstärkung durch Pferdetruppen oder Hubschrauber. Neulich, erzählt Bustamente, habe sich wieder eine hochschwangere Frau durch den Fluss gequält. Es geschah gegen Mittag, wenn es an der Grenze am geschäftigsten ist. Sie kam nur, um ihr Kind auf US-amerikanischem Staatsgebiet zur Welt zu bringen, damit sie einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung hat und die engsten Verwandten laut US-Immigrationsgesetz nachkommen dürfen.

Ein ganzer Kleiderberg türmt sich an der Stelle des illegalen Flussübergangs - Frauenschürzen und Kinderhosen, die sich seit Monaten dort angesammelt haben.

Lee Flores könnte auch Mexikaner sein, dunkel ist sein Teint, die Augen sind fast schwarz. Mittlerweile ist er, der in Brownsville geboren wurde, Assistent der Chefin in der Immigrationsbehörde direkt neben dem Grenzhäuschen. 30 sogenannte resident alien cards stellt seine Behörde jeden Monat aus, eine Art Kurzvisum, das besagt, dass der Empfänger für fünf Jahre ein Aufenthaltsrecht in den USA hat, mit allen Pflichten und vor allem Rechten. Danach kann ein Antrag auf die US-Staatsbürgerschaft gestellt werden. Dafür allerdings benötigt man eine weiße Weste, einen gültigen Pass und am besten einen Ehepartner in den USA. Lee Flores ist also auch Experte für Scheinehen. Ganze Akten hat er angelegt über zweifelhafte Hochzeiten und dubiose Scheidungen. Wer das begehrte Visum auf diesem Wege dann nicht bekommt, versucht es meist illegal.

Warum aber gibt es diese rigiden Kontrollen und Überprüfungen ausgerechnet in Browns ville am Rio Grande, dem südlichsten Punkt der USA, der harmlosen Stadt, die direkt am Golf von Mexiko liegt und nur existieren kann durch gute Nachbarschaft mit dem Gegenüber, dem anderen Grenzteil - mit Matamoros? 115.000 Einwohner hat Brownsville, sagt die Statistik, 380.000 Matamoros - der Anteil der hispanischen Bevölkerung in Brownsville liegt bei 85 Prozent, die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Stadt bei etwa elf Prozent. Brownsville und Matamoros sind zweieiige Zwillinge aus dem gleichen kulturellen Mutterschoß. Obwohl zwei sehr verschiedenen Staaten zugehörig, sind sie miteinander verwachsen. Alles, was den einen betrifft, hat seine Wirkung auf den anderen.

"Soll ich eine Mauer bauen?", fragt Pete Benavides, der Bürgermeister

Täglich überqueren 5.000 Pendler die "B" von Matamoros nach Browns ville und abends wieder zurück. Eingerechnet sind die Tausende von Studenten, "spring breakers", die jeden Oktober für vier Wochen lauthals Abend für Abend nach Matamoros strömen, da in Mexiko der Alkoholkonsum bereits ab 16 erlaubt ist, und da auch sonst das Leben dort etwas offener, schillernder und beschwingter ist als im etwas öden Nachtleben Brownsvilles.

Der Mann, der viel über diese Wahrnehmungen oder einfach "die Probleme" erzählen kann, heißt Pete Benavides, ist Bürgermeister von Brownsville und hauptberuflich Fahrlehrer. Überbevölkerung? Armut? Diebstähle? Prostitution? Missbrauch sozialer Einrichtungen? Benavides wirkt unsicher in seinem breiten Ledersessel, in den er seine beachtlichen körperlichen Massen gezwängt hat. Den üblichen polit-rhetorischen Schliff beherrscht er nicht ganz. "Brownsville", stellt er salomonisch fest, "ist sehr mexikanisch, die Musik, die Kleidung, die Restaurants, das alles unterscheidet sich in nichts von Matamoros."

Brownsville darf für sich in Anspruch nehmen, die älteste Stadt in Texas zu sein. Hätten die US-Truppen 1860 den Krieg im Süden nicht gewonnen, wäre die Stadt heute noch mexikanisch. Jeden Sommer, so Benavides, gebe es gemeinsame Feste, man tausche Schauspieler aus und zelebriere die mexikanische Tradition wie etwa beim sommer lichen Mister-Amigo-Festival. Essen in Browns ville heißt Tacos und Tortillas, die Architektur der Stadt ist spanisch-flach, US-typisch, viele Geschäfte werden von Mexikanern betrieben, aus den Läden sprudelt helle Folklore.

Dass die Schulen überfüllt seien mit illegalen und legalen Einwanderern, dass die medizinische Fürsorge auch den Ungebetenen zugute kommt, dass sie Jobs raubten, wie sich die Leute beklagen - Pete Benavides kümmert das nicht weiter. "Sehen Sie, meine Eltern sind mexikanisch, ich kam hierher, hatte nichts und rannte gegen den Wind. Jetzt bin ich Bürgermeister und komme mit allen leidlich aus. Die da über die Grenze gehen, sind meine Brüder und Schwestern, soll ich eine Mauer bauen?"

"Mixed emotions" nennt Benavides das. 40.000 - schätzt er - leben ohne Pass in Browns ville. "Sie machen die Jobs, die sonst keiner übernehmen würde." Im Tageslicht wabern die Auto- und Truck-Abgase in einer Dunstglocke um die Grenzstation. Wer wissen möchte, was das Wort "reger Grenzverkehr" bedeutet, muss hierher kommen. Auf der überlasteten Brücke herrscht eine ameisengleiche Geschäftigkeit. PKW-Staus, LKW-Kolonnen, Fußgänger aus Matamoros zeigen ihre Tagesgenehmigung, andere Tagesbesucher ihren Pass. Einen Dollar kostet der Übergang nach Norden - knapp zwei Dollar verlangen die Mexikaner. Benavides lächelt, ja, ihn treibe eine große Zuversicht, weil er davon träume, dass dank der NAFTA (*) weitere Firmen kämen, die sich direkt an der Grenze ansiedeln, um dem Handel näher zu sein.

Ein letzter Blick zum schlafenden Rio Grande, der auf spanisch Rio Bravo heißt, "gefährlicher Strom": die Jäger halten einen zappelnden Jungen in den Armen, ein anderer sitzt bereits im grünen Jeep. Ob es wieder Carlos ist, lässt sich nicht genau erkennen, vielleicht ein anderer Carlos ohne Eltern, ohne Heimat, ohne Papiere. Bruce Dawson öffnet die Autotür, holt eine Banane aus seiner Tasche und ein Stück Schokolade.

(*) Nordamerikanische Freihandelszone, besteht seit 1994.

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