Freakshow Schwanensee: Wie kann sich der Kanon der Tanzwelt ändern?
Tanztheater Von Nussknackern und anderen Problemen: Bei einer Veranstaltung im Staatsballett diskutierten Profis und Publikum über den Kanon der Tanzwelt
Bei aller Kritik – klassische Inszenierungen geben Halt in krisenhaften Zeiten
Illustration: Tonina Matamalas
Kanons, Kanoi – oder doch Kanone? Das Wort „Kanon“, also ein Ensemble als verbindlich geltender Werke, scheint so stark als Singular gesetzt zu sein, dass nicht sofort klar ist, wie sich der Plural des Begriffs bilden lässt. Tatsächlich gibt es zwei Möglichkeiten: die Kanons oder Kanones. Doch der Kanon scheint ein Repertoire und die damit verbundenen Assoziationen zu bestimmen, auch im klassischen Tanz: Schwanensee, Der Nussknacker, Giselle. Aber ist er wirklich so unumstößlich? Wer oder was bestimmt ihn überhaupt? Welche Stereotype und Diskriminierungen prägen ihn? Und nicht zuletzt: Wer kann wie Kritik an Kanonisierungsprozessen üben?
Diesen Fragen widmen sich nicht nur Tanzwissenschaftler:innen, sondern zunehmend auch die gro
n, sondern zunehmend auch die großen Häuser selbst – wie das Staatsballett Berlin. Am Dienstagabend vergangene Woche lud es zur Veranstaltung „Crushing the Canon“, organisiert in Kooperation mit der Tanzwissenschaftlerin Mariama Diagne und Studierenden der Freien Universität Berlin.Den Rahmen bildete die Gesprächsreihe „Ballet for Future? Wir müssen reden!“, die das Staatsballett ins Leben rief, nachdem 2021 eine Tänzerin Rassismus und Diskriminierungserfahrungen am Haus öffentlich gemacht hatte. Im Zuge der Aufarbeitung dieses Vorfalls wurde auch das Repertoire untersucht. Dies führte dazu, dass die kommissarische Intendantin Christiane Theobald Ende 2021 entschied, den Nussknacker aufgrund der Reproduktion ethnischer Stereotype aus dem Programm zu streichen. Der Aufschrei in der Ballettwelt war groß, Vorwürfe von Cancel Culture wurden laut. Theobald hatte sich allerdings nicht gegen den Nussknacker im Allgemeinen, sondern gegen eine spezifische Inszenierung – die Rekonstruktion der Originalinszenierung von 1892 – entschieden. Die Darstellungen des „arabischen“ und des „chinesischen Tanzes“ entspringen den damals üblichen, von der imperialistischen Gesellschaft geprägten Vorstellungen.Anstatt die einen reden und die anderen zuhören zu lassen, sollten die Besucher:innen in den Austausch kommen – miteinander und mit Profis vom Staatsballett und aus der freien Tanzszene. So erzählte Pauline Voisard, Tänzerin im Corps de Ballet und Choreografin, von Stereotypen der Unterwürfigkeit und Geschlechterklischees im klassischen Ballett und von der harten Arbeit, die der Illusion von Leichtigkeit auf der Bühne zugrunde liegt. Olivia Hyunsin Kim, die sich mit Autor:innenschaft, multiplen Erzählweisen und der koreanischen Diaspora beschäftigt, kritisierte die fehlende Diversität nicht nur auf der Bühne, sondern auch in den Führungspositionen der großen Häuser.Insbesondere das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Tanzszenen erwies sich als produktiv. So konnte beispielsweise die Performerin Angela Alves, die sich in ihren Arbeiten mit den Themen Zugänglichkeit, unterschiedlichen Fähigkeiten von Körpern und ihrer Multiplen Sklerose auseinandersetzt, feststellen, wie verschieden Sehgewohnheiten sein können: „Für mich ist Schwanensee die Freakshow“ – und eben nicht die Norm.Sehnsucht nach MärchenDenn während es im klassischen Ballett viel um Originalinszenierungen und stereotype Darstellungen geht, infolgedessen Tänzer:innen mit dem Ziel ausgebildet werden, sich einer physischen Uniformität anzunähern, kann die freie Tanzszene diese Perfektion infrage stellen und die Unterschiedlichkeit der Körper mit diversen Fähigkeiten und Hintergründen beleuchten. Es geht hier vielmehr darum, Repräsentation zu schaffen für diejenigen, die auf Bühnen unsichtbar oder zum Klischee gemacht werden.Entsprechend unterscheiden sich auch die Erwartungen der Zuschauer:innen. In der Diskussion merkten einige an, dass das traditionelle Publikum im Ballett staunen und in Ehrfurcht versetzt werden möchte. Damit einher geht der Wunsch nach klassischen Erzählweisen, den meist märchenhaften Handlungen, die in eine andere Welt entführen. Dass diese häufig voller veralteter Stereotype sind, spielt dabei bisher oft nur eine untergeordnete Rolle. Der Prinz als Retter oder das weibliche Corps de Ballet als übermenschliche Wesen – Schwäne oder Feen – sind zur Tradition geworden und wurden in der europäischen (Ballett-)Kultur über Generationen hinweg weitergegeben. Dass diese Tradition gerade in krisenhaften Zeiten vielen Menschen ein Gefühl von Vertrautheit und Halt gibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht umsonst erfreuen Ballettklassiker sich insbesondere am Jahresende großer Beliebtheit. Doch wie könnten zeitgemäße Inszenierungen dieser Werke aussehen?Am Beispiel von Patrice Barts Inszenierung von Schwanensee (1997) am Staatsballett Berlin zeigte Nadja Saidakova, ehemals erste Solistin, heute Ballettmeisterin und Choreografin am Staatsballett, auf, dass durchaus neue Narrative in den Klassikern verankert werden können. Bart wertet die Rolle der Königin – im Libretto eine repräsentative Nebenrolle – zu einer der Hauptrollen auf und macht aus ihr eine starke, emanzipierte, aber auch manipulative Person, die letztlich alles verliert. Am Ende steht hier keine märchenhafte Traumhochzeit, sondern die Folgen selbstsüchtiger Interventionen.Aber auch ein Ansatz, der ursprünglich für größere Freiheit stand, kann erstarren, wie das Beispiel des Tanztheaters von Pina Bausch zeigt. Ging es der Choreografin zu Lebzeiten nicht darum, „wie sich die Menschen bewegen, sondern was sie bewegt“, ist es heutzutage unmöglich, ihre Inszenierungen aufzuführen und dabei von den engen historischen Vorgaben abzuweichen – dafür sorgt die Pina Bausch Foundation. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die einzelne tanzende Person und ihr Erleben, sondern die Bewahrung eines Erbes – das dadurch allerdings, wie ein Besucher anmerkte, pervertiert wird.Bei aller Einigkeit kam es gegen Ende doch noch zu einer Kontroverse über die Frage, wer die Spielpläne prägt und wer unterrepräsentiert ist. Staatliche Häuser haben bereits begonnen, ihre Spielpläne mit zeitgenössischem Repertoire zu erweitern. Die physische Uniformität der Ballettensembles wird zunehmend infrage gestellt, kann allerdings nicht mit den Entwicklungen der freien Szene mithalten. Hier finden regelmäßig Festivals wie 2022 das „Volume Up“statt, kuratiert von Olivia Hyunsin Kim, das marginalisierte und von Diskriminierung Betroffene in den Mittelpunkt stellte.Abschließend wurde klar: Es muss die Bereitschaft bestehen, mit dem Kanon zu brechen, damit Brücken zwischen Altem und Neuem geschlagen werden können.Placeholder authorbio-1
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