Inzwischen fällt es Tag für Tag schwerer, die Kämpfe im Nahen Osten nicht als Krieg zu bezeichnen. Zwar gibt es immer noch die Steine werfenden Jugendlichen, die kleinen Gruppen der Attentäter, die verschiedenen Formen privater Gewalt. Aber die Auseinandersetzungen werden zunehmend vom Militär und den »Sicherheitskräften« geprägt, von Raketenüberfällen, Hubschrauberangriffen, Panzerbeschuss und Mörsergranaten - den klassischen Instrumenten des Krieges. Auch die Opferzahlen erreichen inzwischen eine Größenordnung, die Friedensforscher gemeinhin als »Krieg« bezeichnen. In US-Informationsdiensten wird schon darüber nachgedacht, ob bald die nächste Eskalationsstufe bevorstehe: der massive Angriff Israels
ls auf die Autonomiegebiete mit der dauerhaften Wiederbesetzung strategischer Teile, die Vertreibung oder Liquidierung der gesamten palästinensischen Führungsschicht, sowie - wenn man schon einmal dabei ist - ein präventiver Angriff auf Syrien. Klingt weit hergeholt? Sicher. Aber dass im Frühjahr ausgerechnet der israelische Tourismusminister und ausgerechnet im Berliner Reichstag die Lösung des Nahostkonfliktes nur in einem »humanen Transfer der palästinensischen Bevölkerung« sehen konnte - also einer Vertreibung der Palästinenser, dem, was man seit ein paar Jahren »ethnische Säuberung« nennt - hätte man sich ja auch kaum vorstellen können. Inzwischen ist es nicht nur Zeit, sich auf das Schlimmste vorzubereiten, sondern auch das Undenkbare zu denken. Denn in mancher Hinsicht geschieht es bereits: Wenn etwa Israels Regierung serienweise verdächtige oder für gefährlich gehaltene Palästinenser durch die Armee ermorden lässt - und ihre Todeslisten teilweise sogar veröffentlicht, dann hätte man solche offenen Formen des staatlichen Terrorismus eher im Irak des Saddam Hussein vermutet.Der Kern des blutigen Konfliktes liegt in der illegalen, seit 1967 andauernden militärischen Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens und der ebenso illegalen Landnahme durch israelische Siedler. Jeder Versuch einer politischen Lösung muss an diesen Punkten ansetzen, wenn sie nicht ins Leere laufen will. In dieser Erkenntnis lag auch die Rationalität der alten Formel »Land gegen Frieden« - ohne Aufgabe der Besatzung würde und wird der Konflikt noch Generationen weiter schwelen. Die Hoffnung auf einen Friedensprozess lag darin, dass dies langfristig weder im palästinensischen noch im israelischen Interesse liegen könne.Die Probleme begannen, als bereits die Regierungen von Yitzhak Rabin und Ehud Barak - von Benjamin Netanyahu ganz zu schweigen - der Versuchung nicht wiederstehen konnten, aufgrund der eigenen militärischen und politischen Stärke eine Version des »Friedensprozesses« zu bevorzugen, die nicht auf ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Israel und Palästina, sondern auf eine von Palästinensern selbstverwaltete Abhängigkeit zielte. Seit Antritt der Regierung des Premiers Ariel Sharon heißt es nun »Land statt Frieden« und damit offene Konfrontation. Es geht um die Kontrolle des Landes - die Frage eines Friedens oder der Koexistenz mit einer ohnehin für überflüssig gehaltenen Bevölkerung ist dem deutlich nachgeordnet, selbst die Frage der Sicherheit der israelischen Bürger ist dieser Politik zweitrangig und gehört zu deren zahlreichen Kollateralschäden. Die aktuelle Welle der Gewalt, das Hochschaukeln des Terrorismus und die Zuspitzung der Auseinandersetzung bis zur Schwelle des Krieges sind direkte Folgen der Sharonschen Politik.Die palästinensische Seite befindet sich spätestens seit dem Politikwechsel in einer no-win-Situation: sie verfügt über keine politische Option mehr, ihre grundlegenden Ziele zu erreichen. Mit wem immer man in Palästina auch spricht, von Jugendlichen bis zur politischen Führung (etwa Marwan Barghouti): der Verhandlungsprozess gilt als endgültig gescheitert. Israel habe offensichtlich kein Interesse an einer politischen Lösung und in der Vergangenheit praktisch alle Vereinbarungen ignoriert oder gebrochen. Wozu solle man da noch verhandeln, außer um die internationalen Partner zufrieden zu stellen? Andererseits weiß in Palästina jeder, dass durch Gewalt oder gar Terroranschläge Israel nicht zum Rückzug gezwungen werden kann - dazu ist es militärisch zu stark. In diesem Sinne ist die palästinensische Gewalt nicht wirklich »politisch« - also auf die konkrete Erreichung eines Ziels gerichtet - sondern psychologisch: Wenn weder Verhandlungen noch Gewalt zum Abzug Israels aus den besetzten Gebieten führen - dann kann man sich durch Steinwürfe, Attentate und selbstgebaute Granaten wenigstens ein Gefühl verschaffen, nicht tatenlos zu bleiben. Die Repression, die Angriffe und die Killerkommandos Sharons nehmen andererseits nur eine von mehreren politischen Optionen wahr, sie stellen nämlich den Versuch dar, die palästinensische Bevölkerung zu demoralisieren und deren politische Führung als hilflos bloßzustellen. Aber es stellt sich zunehmend die Frage, wohin diese Politik eigentlich führen soll, wenn sie weder Verständigung noch Sicherheit bewirken kann. Die palästinensische Führung demütigen, demontieren oder liquidieren zu wollen bedeutet, auch langfristig keinen Gesprächspartner zu brauchen oder zu wollen. Und das ergibt nur einen Sinn, wenn die Option eines Krieges und des »Transfers der Palästinenser« zumindest ernsthaft erwogen wird.siehe auch www.Jochen-Hippler.de