Als der arbeitsame Langzeitlohnarbeitslose W. am 28. Februar 2003 erwachte, erkannte er seine kleine Berliner Erwerbslosenwelt noch als die Wärmestube, die sie ihm immer war. Stunden später war alles anders. Was war geschehen?
Um das Neue zu verstehen, muss man wissen, dass hierzulande entlassene Arbeitskräfte weder auf Töpfe schlagen noch Autobahnen blockieren. Sie bevorzugen vielmehr die Traurigkeit ihres geräuschlosen Verschwindens. Einmal weg, tauchen sie nirgends wieder auf - nicht in Sportvereinen, nicht in Kulturprojekten und schon gar nicht in Erwerbsloseninitiativen. Niemand ist so ungreifbar-allgegenwärtig wie sie. Nur der Warteraum des Arbeitsamts macht sie als Gruppe sichtbar - als Gruppe zufällig zusammensitzender Vereinzelter: Jeder starrt f&
starrt für sich allein.Nur wenige werden politisch akiv - berlinweit vielleicht unter hundert, aber Genaues weiß niemand. Diese wenigen gehen verschiedene Wege. Einige treibt es zurück in Lohnarbeitsverhältnisse, andere wollen nur noch sinnvoll, selbstbestimmt und von Ausbeutung befreit arbeiten, und dann gibt es noch die, die einfach in Ruhe gelassen sein wollen. So war die Erwerbslosen-Welt geordnet und auch die Dienstältesten unter ihnen konnten sich nicht erinnern, dass es einmal anders war.Nicht dass W. in seiner kleinen Welt glücklich gewesen war, aber er hatte sich in ihr eingerichtet, und Wohlbefinden überkam ihn, wenn er arbeiten konnte, wie und was er wirklich wollte. Seit Jahren schon wirkte er wirkungslos mit einer kleinen Erwerbslosengruppe. Man traf sich, dachte nach, stritt und ging auseinander. Dort hatte W. seinen Platz und fühlte sich anerkannt, und für den Fall, dass er fehlen würde, glaubte er, eine Lücke zu hinterlassen.W. wusste zu jeder Sekunde, wem er jene arbeitsame Idylle verdankte - dem Arbeitsamt. Jenes schien ihm - je länger, desto mehr - seine »Große Mutter« zu sein, die ihn nährte und sich um ihn kümmerte. Keineswegs zufällig endeten die meisten Demonstrationen vor den Arbeitsämtern - instinktiv liefen die Erwerbslosen zu ihrer Nährerin und klagten dort heftig über das rücksichtslose Walten von Vater Staat. Aber niemand klagte das Arbeitsamt an. Warum auch? Der Mutter Arbeitsamt waren all ihre Kinder gleich. Und mehr noch: Die am längsten an ihrer Brust lagen, waren ihr die liebsten, weil sie ihre schwächsten waren.Diese amtliche Beziehung der Sorge verlief keineswegs konfliktfrei. Zum Beispiel fürchtete sich W. vor jedem Meldetermin. Obschon die »Große Mutter« nur zweimal pro Jahr ihre vielen Kinder einzeln zu sich rief, lag doch über allen Jahreszeiten der Schatten dieses Rufs. Denn der Meldetermin offenbarte die Wahrheit über W.´s totale Abhängigkeit und die Tatsache, dass seine Fähigkeiten auf keine zahlungswillige Nachfrage trafen. Und noch schlimmer war die Erkenntnis, nicht subsistenzfähig zu sein. W. konnte kein Handwerk ausüben, und seine Kenntnisse in Land- und Gartenbau waren kümmerlich - kein Produktionswissen, kein Werkzeug, kein Land. Das Verschwinden der Mutter wäre eine Todesdrohung. So erfuhr W. seine abgrundtiefe Staatsbedürftigkeit.Aber W. erfuhr beim Meldetermin auch, dass es für ihn einen Platz im Gesellschaftsgefüge gab, eben den Stuhl im Beratungszimmer der Arbeitsvermittlerin. Auch wenn W. nichts mehr hasste, als vermaßnahmt zu werden - bewies nicht schon der Wille der Arbeitsvermittlerin, ihn auf jeden Fall irgendwann in eine Maßnahme zu zwängen, dass ein Platz eingerichtet war, der nur auf ihn wartete? Und solange dieser Platz auf ihn wartete, konnte W. seine Staatsbedürftigkeit und Subsistenzunfähigkeit vergessen.Irgendwann aber verschwand Kohls massig-mächtiger Vaterkörper aus dem politischen Raum und mit ihm der gute Mensch Blüm und mit beiden das ewige Wärme-Versprechen des rheinischen Kapitalismus. Die Rotgrünen rissen die Tür der Wärmestube auf, und W. durchfror es zum ersten Mal, als der rote Kanzler ihn zum teuren Faulenzer erklärte. Aber im Arbeitsamt blieb zunächst alles beim alten. Der herbeigeredete Riss zwischen den Erwerbslosen tat sich im Amtlichen nicht auf. Das Job-AQTIV-Gesetz bewirkte ungewollt sogar das Gegenteil: Noch einmal sollten unterschiedslos alle für ihre Eingliederung »fit« gemacht werden. Ein letztes Mal wandte sich Mutter Arbeitsamt allen ihren Schützlingen in gleicher vermaßnahmender Weise zu.Der Tag, nach dem alles anders war, war nicht der Tag der Schröder-Rede. Schon vorher war es geschehen. Am 28.Februar 2003 las W. von der zentralen Weisung des Arbeitsamts. Der rote Florian Gerster verfügte, dass es ab sofort zwei Klassen von Lohnarbeitslosen gebe: Diejenigen mit hoher Eingliederungswahrscheinlichkeit und diejenigen mit geringer oder gar keiner. Wer Arbeitslosengeld bekommt, gilt als eingliederungsfähig; wer Arbeitslosenhilfe bezieht, gilt als kaum oder gar nicht eingliederungsfähig. So einfach ist das. Am Ende des Tages markierte eine neue, bedrohliche Grenze den Raum der Armut: Die Grenze zwischen den amtlich-anerkannten Verwertbaren und den amtlich-festgestellten Überflüssigen. Der 28. Februar 2003 war für W. der Tag, an dem Vater Staat die Mutter Arbeitsamt erschlug.Wer aber schützt nun die zu Überflüssigen Erklärten im Kälteraum der sterbenden Stadt Berlin? Aufgeregt rennen sie durcheinander und stoßen sich gegenseitig um. Wehe den Nichterwerbstätigen! Wehe den Alten! Wo sind sie geblieben - die Strukturen gegenseitiger Hilfe zwischen Verwandten, Freundinnen und Freunden, Nachbarn und Bekannten? Wo die politischen Selbsthilfegruppen? Wo irgendeine Vereinigung der Überflüssigen? Kein Netz mit Boden - nirgendwo. Befreit von arbeitsamtlicher Fürsorge werden nun alle selbst ihre Überlebens-Netze knüpfen müssen. Bei Strafe des Untergangs wird der staatsbedürftige und subsistenzunfähige W. lernen müssen, aus eigener Kraft zu leben. Die Mutter ist weg und der Vater erbarmungslos.