Willkommen im Zeitalter der Unsicherheit. Anderswo ist es bereits vor einigen Jahren angebrochen. Nun erfasst es Deutschland. Hergebrachte Gewissheiten werden von einem politischen System beseitigt, das eine erratische Kehrtwende nach der anderen vollführt: Brexit, Trump – und als Nächstes Deutschland? Vom Kleinstaat Thüringen aus gelingt es ein paar Nationalradikalen, die Bundespolitik aufzumischen und die Regierung ins Wanken zu bringen. Bislang war Deutschland das Land der Merkel’schen Ruhe. Einige sagen: der einschläfernden Langeweile. Um uns herum ist die alte Politik schon seit Längerem im Zerfall begriffen: Parteien werden von neuartigen Bewegungen hinweggefegt (wie in Frankreich oder Italien), oder sie spalten sich in radikalere Fraktionen auf,
f, die kaum noch Gemeinsamkeiten erkennen lassen (wie in England und den USA). Nur in Deutschland regierte stets Merkel in technokratisch gestimmten Großen Koalitionen. Unsicherheit kam aus dem Ausland über uns; Deutschland war widerstandsfähig genug, diese Schocks abzufedern. Bislang jedenfalls. Diese geordneten Zustände kommen nun auch bei uns an ein Ende. Kurzschlusspolitik, die von emotionalen Effekten getrieben wird, nicht von Fakten, Argumenten und vernünftigen Abwägungen, bemächtigt sich auch in Deutschland mehr und mehr der Politik. Warum eigentlich? Zu welchem Zweck? Mit welchen Folgen?Die Befunde sind besorgniserregend. Nur wenige Bürger interessieren sich ernsthaft für politische Fragen, die Kenntnisse über gesellschaftlich relevante Entwicklungen sind im Durchschnitt spärlich, wie Umfragen zeigen. Das Vertrauen in Institutionen und Eliten ist bescheiden. Öffentliche Diskurse sind durchzogen von Polarisierungen, Herdentrieben und plötzlichen Kehrtwenden. Konsens und Kompromiss sind in der Ära von Social Media schwerlich erreichbar; Individuen und ganze Gesellschaften werde überemotionalisiert und auf Wut konditioniert. All diese Verschiebungen führen zu einer grundsätzlichen Frage: Kann die Demokratie den Strukturwandel der Öffentlichkeit überleben?Demokratie gedeiht in geordneten Kommunikationsräumen. Wenn aber der vernünftige Austausch von Argumenten und der Respekt vor der Wahrheit abhandenkommen, wenn Unfälle möglich sind, ist dann die freiheitliche Gesellschaftsordnung eigentlich aufrechtzuerhalten?Wir werden zu HooligansForderungen nach dem Um- und Abbau der Demokratie kommen inzwischen auch aus dem bürgerlichen Lager. Die Bürger wüssten so wenig und verhielten sich derart irrational, meint Jason Brennan, Philosoph an der Washingtoner Georgetown University, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht eine gute Regierungsführung eher verhindere als gewährleiste. Die Ausweitung der Wahlberechtigung seit dem 19. Jahrhundert – weg von der Bindung an Besitz und Stand hin zur Einbeziehung immer weiterer Bevölkerungskreise – hält Brennan für einen historischen Irrweg. Es sei kein Fortschritt, wenn mehr und mehr Leute wählen dürften, die nicht in der geistigen und seelischen Verfassung dazu seien. Brennan polemisiert gegen das Ideal der deliberativen Demokratie, die versucht, möglichst alle einzubeziehen, wenn es darum geht, den Volkswillen zu formulieren. Dieses System setze voraus, dass die Bürger sich wie „Vulkanier“ verhielten: streng rational, unemotional, unterkühlt – wie der spitzohrige Raumschiff-Enterprise-Offizier Spock. Tatsächlich jedoch ähnelten real existierende Wahlberechtigte eher „Hobbits“ – Leuten, die sich „nicht groß für aktuelle Ereignisse“ interessierten, vor allem ihr „zweites Frühstück“ im Kopf hätten und ansonsten entspannen wollten. Und dann ist da, nach Brennan, noch eine dritte Kategorie: „Hooligans“. „Sie interessieren sich sehr für Politik, aber mehr wie Fußballfans sich für ihr Team interessieren, alles parteiisch eingefärbt“, so Brennan. „Die Daten zeigen, dass wir immer mehr zum Hooligan werden, je länger wir uns mit Politik beschäftigen.“Das mag arg überspitzt formuliert sein, aber die Resonanz, die solche Gedanken inzwischen finden, zeigt die verbreitete Unzufriedenheit mit den Resultaten des demokratischen Systems. Das Recht der Bürger, so das Argument, über die öffentlichen Angelegenheiten mitbestimmen zu können, setzt die Bereitschaft voraus, sich eingehend über diese öffentlichen Angelegenheiten zu informieren, um sie vernünftig beurteilen zu können. Diejenigen, die dieses Interesse vermissen lassen, verwirken aus diesem Blickwinkel ihre Mitwirkungsrechte. Dahinter steht eine zutiefst pessimistische Sicht auf die Demokratie. Der Gedanke, dass das Recht auf demokratische Mitentscheidung das Verantwortungsgefühl der Bürger für ihr Gemeinwesen insgesamt stärken könnte, wird rundheraus verworfen.Brennan schlägt vor, das Wahlrecht an das Wissen der Bürger zu knüpfen. Die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, müsse sich zur Epistokratie, zur Herrschaft der Wissenden, wandeln. Das ist radikal – und gefährlich. Wer diesen Vorstoß zu Ende denkt, landet bei Gesellschaften, die mit westlichen Vorstellungen von Freiheit nicht mehr viel gemein haben.Die Epistokratie wird nahezu zwangsläufig dazu führen, dass nicht nur die allgemeinen bürgerlichen Mitwirkungsrechte beseitigt werden, sondern die Freiheitsrechte gleich mit. Denn es kann keine strikte Trennung mehr geben: einerseits die Gesellschaft, in der die Bürger sich frei entfalten können, ihren privaten Vorlieben und Interessen nachgehen – andererseits die Politik, in der Entscheidungen von allgemeiner Bedeutung getroffen werden, wofür sich aber die meisten ohnehin nicht interessieren und deshalb gar kein Interesse an demokratischer Mitwirkung haben. Wer diese Trennung als gegeben annimmt, kann der privaten Sphäre Liberalität zusichern, während er in der politischen Sphäre Restriktionen das Wort redet.Es ist nur so: Freie Meinungsäußerung jedes einzelnen Bürgers ist im Social-Media-Zeitalter der Sphäre des Privaten entwachsen. Was früher an Stammtischen geäußert wurde und eng begrenzte Wirkung entfaltete, kann nun potenziell ein Millionenpublikum erreichen – und damit die gesellschaftliche und politische Realität verändern. Politische Entscheidungen in die Hand von wenigen zu legen und gleichzeitig weiterhin freie Meinungsäußerungen geschehen zu lassen, wird sich als inkompatibel erweisen. Nehmen wir als Beispiel ein epistokratisch getroffenes staatliches Sparprogramm, das öffentliche Sozialleistungen zusammenkürzt. Das ist womöglich eine vernünftige Entscheidung in einem hoch verschuldeten Land, das vor demografischen Herausforderungen steht. Nun aber rufen Aktivisten zum Widerstand auf. Über Facebook, WhatsApp und Twitter organisieren sie Proteste und wilde Streiks, sperren Straßen, wie es die Gelbwesten in Frankreich im Winter 2018/19 getan haben. Sie legen das Land lahm. Womöglich droht eine Revolution.Das Beispiel macht deutlich, dass in einer Epistokratie auch die Stimmrechtslosen enorme Macht hätten – solange sie sich frei äußern können. Via Social Media können sie sich sammeln, organisieren und radikalisieren. Die epistokratische Elite wird deshalb entweder die Stimmrechtslosen in die Entscheidungsfindung einbeziehen müssen – oder, wie es autoritäre Staaten tun, die freie Meinungsäußerung ein- und die öffentliche Sphäre beschränken, insbesondere das Internet kontrollieren und Social Media blockieren. Es gibt keine Dichotomie mehr zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten.Eine neue DiskursethikDass Ideen wie die Brennans inzwischen überhaupt einen voluminösen Resonanzraum finden, zeigt das neue Unbehagen an Repräsentation und Partizipation. Eine typisch deutsche Antwort auf die neue politische Instabilität sind technokratische Lösungen. Politische Entscheidungen sollen an weitgehend unabhängige Institutionen delegiert werden, die klaren Regeln folgen. Die Bundesrepublik selbst ist entsprechend aufgebaut: Verfassungsgericht, Bundesbank oder Kartellamt sollen losgelöst vom Politikbetrieb regelgebunden entscheiden. Dadurch wird der Bewegungsspielraum der gewählten Volksvertreter erheblich begrenzt. Vermag die Rationalität von technokratischen Experten die Entfesselung der Öffentlichkeiten und die Polarisierung der Politik einzuhegen? Eine Zeit lang vielleicht. Auf Dauer aber wird die Technokratie zur illiberalen Demokratie und womöglich zur Autokratie degenerieren.Drei kurze Schlussfolgerungen: Wir werden, erstens, nicht umhinkommen, die öffentlichen Diskursräume neu zu ordnen. Das betrifft auch die Regulierung von sozialen Medien, Suchalgorithmen und Aggregatoren, die, wie der klassische Journalismus, zur Infrastruktur der Demokratie gehören. Zweitens, gegen die Repräsentationskrise lässt sich mit einigen Umbauten am Institutionengefüge der Demokratie angehen. Mehr Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, gerade auf lokaler und regionaler Ebene, also dort, wo es die Bürger direkt erleben, ist ein lohnenswerter Ansatz.Drittens sind wir selbst gefordert, als Individuen und als Gesellschaften: Die ernsthafte Befassung mit dem Politischen, die Hochachtung vor faktischen Argumenten, vor den Interessen und Meinungen der anderen ist kein Luxus, sondern entscheidende Voraussetzung unseres Lebensstils und Gesellschaftssystems. Es geht, letztlich, darum, eine neue Diskursethik zu verankern. Wenn es nicht gelingt, öffentliche Debatten so weit einzuhegen, dass wieder Anstand und Vernunft – zwei auf bedrückende Art altmodische Begriffe – einkehren, wird der Selbstzerstörungstrip des Westens kaum aufzuhalten sein. Dann werden die Illiberalen obsiegen. Auf dem Spiel stehen: der innere und der äußere Friede, Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit. Das ist nicht übertrieben. Die liberale Gesellschaftsordnung steht unter massivem Druck. Wir sollten ihm nicht nachgeben.Placeholder authorbio-1
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