Freiheit - wofür eigentlich?

ALEXANDER SOLSHENIZYN IN DER ZEITUNG "ARGUMENTY I FAKTY" Womit Wladimir Putin Recht hat - womit nicht

Der politische Einfluss des einstigen Dissidenten und Exilanten Alexander Solshenizyn (geboren 1918) ist in Russland nur noch äußerst gering. Dennoch meldet sich der Schriftsteller von Zeit zu Zeit mit seinem Urteil über die Lage zu Wort. Gegenstand seiner jüngsten Äußerungen in der Zeitung Argumenty i Fakty ist Russlands Zustand am Beginn des 21. Jahrhunderts. Wir dokumentieren die wesentlichen Passagen dieses Artikels.

Unsere Geschichte ist besonders tragisch. Selbst unter Beachtung dieser Tatsache stellt sich die gegenwärtige Politik in Russland als weit entfernt von aller Sittlichkeit dar. Das Land geriet in einen verheerenden Sog der Ausplünderung des nationalen Eigentums und der Bevölkerung. Unser Volk liegt am Boden. Es war nicht im Stande, die Kraft zu finden, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die Selbstverwaltung ist unterdrückt worden. Statt dessen kreist über unseren Köpfen eine Meute Bürokraten - unsere politische Klasse, die auf absurde Weise entstand. Sie bildete sich aus reuelosen Nomenklaturkadern, die ihr Leben lang den Kapitalismus verdammten und ihn jetzt lobpreisen, aus raffgierigen Komsomol-Funktionären, skrupellosen politischen Abenteurern, findigen Wirtschaftskriminellen und Zufallsmenschen, die auf die ihnen zugefallene Rolle wenig vorbereitet waren. Dank dieser Entwicklung wird behauptet, Russland sinke auf das Niveau der "Dritten Welt" herab. Ich akzeptiere das nicht. Ich habe immer geglaubt, dass unsere traditionelle Kultur, unser Geist, stärker sind als die bedrückenden materiellen Umstände.

Ich hatte die Gelegenheit, Präsident Putin zu sagen, dass die Stärkung der Regierungsinstitutionen auf allen Ebenen richtig und notwendig ist, um das Land vor dem Zerfall zu bewahren. Aber es wird auf diese Weise kein Aufblühen für Russland geben. Dafür ist eine wirksame lokale Selbstverwaltung notwendig, die von unten nach oben strukturiert ist und über großzügige finanzielle Mittel verfügt. Solch eine Selbstverwaltung - innerhalb der bestehenden staatlichen Institutionen - schreibt Artikel 12 der Verfassung vor. Doch sie existiert nicht und niemand nimmt sich ihrer an. In vielen Gouvernements werden zudem die Versuche, sie aufzubauen, unterdrückt. Allein die mehrstufige Selbstverwaltung des Volkes (zuerst lokal, dann auf Ebene der Rayons), die mit den exekutiven Institutionen zusammenwirkt, kann den Menschen die Möglichkeit geben, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen.

Und von diesem Tage an lebten sie ehrlich und rechtschaffen

Um das Wirken des Präsidenten und seine einzelnen Maßnahmen beurteilen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, in welchem Zustand er Russland übernommen hat. Er ist um seine Erbschaft wahrlich nicht zu beneiden. In der Ära Jelzin wurde zum einen das nationale Eigentum geplündert. Hunderte Milliarden Dollar verschwanden auf sonnenbeschienenen Inseln. Zum anderen hat Jelzin - ausgestattet mit wenig Sachkenntnis - alles unternommen, um den Verfall des Staates zu beschleunigen. Anstelle einer allein gültigen staatlichen Gesetzlichkeit führte er eine Art politisches Bestechungsgeld in Form privater Übereinkünfte ein. Putin sah sich daher nicht mit Dutzenden, sondern mit Hunderten himmelschreiender Probleme konfrontiert. Es war unmöglich, dabei keine Fehler zu begehen. Viele kritisieren ihn deshalb.

Auch meiner Meinung nach gibt es offensichtliche Fehler, beispielsweise die Aufhebung der Unabhängigkeit des Umweltrates oder der Forstverwaltung. Das Ergebnis ist die Plünderung unserer Natur, unserer Wälder. Es lassen sich zudem Schritte beobachten, die mir sehr zweifelhaft erscheinen, etwa die Reform des Föderationsrates, der von Gouverneuren gebildet wurde, die in ihren Regionen verantwortlich und kompetent waren. Jetzt ist vorgesehen, sie durch zufällige, allem Anschein nach drittrangige Politiker zu ersetzen, die sich dauerhaft in Moskau einnisten und dort vom Salär eines Ministers leben. Putin hat zweifellos das Richtige im Blick: die Stärkung Russlands, die Stärkung der Einheit. Jedoch dient die gewählte Variante diesem Ziel nicht - im Gegenteil, sie entstellt es.

In einigen Fällen fehlt dem Präsidenten nach meinem Eindruck die nötige Energie, wenn es um die in den vergangenen Jahren durch Habgier und Korruption zusammengerafften Güter geht. Erdöl, Erdgas und Buntmetalle wurden verschenkt oder für nur einen Bruchteil ihres Wertes verschleudert. Wir blieben ohne unser Eigentum zurück. So kann Russland nicht überleben. Zur Zeit lanciert man in der Duma das Projekt einer Amnestie. Das heißt: Was bis jetzt gestohlen wurde, ist vergessen und soll verziehen werden. Und von diesem Tage an lebten sie ehrlich und rechtschaffen - das ist blanker Unsinn. Auf einem solch wackeligen Fundament kann man keinen Staat gründen.

Diese innere Verletzung der Freiheit ist sehr gefährlich

Die Meinungsfreiheit ist wie jede Freiheit ein segensreiches, aber zweiseitiges Geschenk. Mit der Behauptung, dass heute die Meinungsfreiheit bei uns unterdrückt wird, bin ich - der über die sowjetische Erfahrung verfügt - nicht einverstanden. Ich meine, dass die Presse grundsätzlich frei ist. Sie sagt, was sie will und fürchtet niemanden. Sie ist keinen Repressionen ausgesetzt. Eine andere Tatsache ist, dass sie in vielem von den Erwägungen ihrer Geldgeber bestimmt wird. Diese innere Verletzung der Freiheit ist sehr gefährlich. Ich beziehe und lese mehrere Zeitungen, erhalte außerdem Hunderte von Briefen: Ein einziger Aufschrei des Volkes, was ihm angetan wird. Die beiden Äußerungen stimmen offenbar nicht überein. Ich behaupte, dass die Zeitungen oberflächlicher und seichter sind als das Leben. Sie nehmen Anteil an den politischen Intrigen, kümmern sich dagegen wenig um das Wohlergehen des Volkes. Nur zur Ausschmückung gibt es Alltagsszenen auf den Monitoren oder Zeitungsseiten.

Das Schlimmste bei all dem ist die scheinbar totale Einmütigkeit des Bürokratenapparats, aller gesetzgebenden und regierenden Institutionen sowie der gebildeten Klasse, dass eine Selbstverwaltung für das Volk nicht in Frage kommt. Sie sei unnötig, heißt es. Der Aufblühen Russlands ist aber nur dann möglich, wenn die Millionen ihre Stimme erheben und frei sind, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Übersetzung Heiko Hänsel

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