Seit nunmehr zehn Jahren ist die ehemalige Sowjetrepublik Georgien unabhängig. Über den Zustand des abgetrennten Körperteils eines einst großen Organismus ist das Land jedoch erst wenig hinaus gelangt. Das Entwicklungskonzept der »Neuen Seidenstraße«, wie es die Regierung Schewardnadse verfolgt, verzeichnet bislang noch nicht die gewünschten ökonomischen Erfolge. Im Überlebenskampf einer postsowjetischen Gesellschaft müssen vor allem ökologische und soziale Belange mit viel Stehvermögen und Geduld durchgesetzt werden.
Marina Kotschloschwili hat einen Strohhut, den sie zusammenfalten kann und demzufolge in ihrer Aktentasche mitführt. Unsere Marsch routka - eine Art Linientaxi für acht bis zehn Personen - fährt hinauf an den nördlichen Stadtrand. Das alte Tbilissi mit den runden, glänzenden Kirchtürmen, den Zypressen und Platanen am Ufer des lehmgelben Flusses Mtkwari bleibt unter uns liegen. Am Rande heißer Bergstraßen gibt es Obst, Gemüse und Getränke zu kaufen, liegen Hunde und Schafe im Schatten.
Unsere Nummer 170 endet zwischen den Plattenbauten des Bezirks Varketili. Hier setzt Marina ihren Hut auf. Die Agraringenieurin betreut einen Gemeinschaftsgarten an der Peripherie der Stadt für den Bedarf der ärmsten Familien des Wohngebietes. Finanziert wird dieses Projekt von der US-amerikanischen Know-How-Stiftung, in die Tat umgesetzt von der georgischen Organisation für ökologischen Landbau und ländliche Entwicklung - Elkana.
Zu Sowjetzeiten wurden in Varketili Flugzeuge gebaut. In den Hochhäusern ringsherum leben bis heute die einstigen Angestellten des Werkes, das längst geschlossen ist. Wie überall in Georgien trifft auch hier der Niedergang der industriellen Produktion unzählige Stadtbewohner. Hundert Familien, die von der Bezirksverwaltung als die ärmsten des Rayons eingestuft wurden, bauen auf jeweils 300 Quadratmetern Land ihre eigenen Kartoffeln - dazu Bohnen, Mais, Sonnenblumen sowie Gemüse und Kräuter - an. Gemeinsam haben sie die Mülldeponie beseitigt, die sich an dieser Stelle befand, und ihre Pflanzungen angelegt.
Einmal wöchentlich besucht Marina die Anlage, gibt Ratschläge, bringt notwendige Präparate zur Düngung oder zur Schädlingsbekämpfung mit. Es wird streng biologisch gewirtschaftet, was die meisten Familien allerdings weniger interessiert - für sie ist allein wesentlich, etwas für den eigenen Haushalt an Lebensmitteln tun zu können.
Reso Buwduli ist dabei, sein Maisbeet zu hacken. Auf die Frage, ob ihm die Arbeit Spaß mache, antwortet der Mittvierziger: »Nein. Aber wenigstens ist das Leben nicht zu eintönig, und ich habe etwas zu tun.» Buw duli ist Bauingenieur ohne Arbeit. Erwerbslose erhalten in Georgien keine staatliche Unterstützung, sondern müssen von ihrer Familie oder ihren Freunden ernährt werden. Buwdulis erwachsene Kinder sind jedoch noch in der Ausbildung, seine Frau arbeitet als Lehrerin, das heißt, sie bekommt ein Gehalt, das nicht einmal für eine Person zum Leben reicht. Deswegen wurde der Familie diese Parzelle zuerkannt.
Wo Karawanen wanderten
In einem Museum der Hauptstadt Tbilissi hängt ein Foto aus dem 19. Jahrhundert, das den Charakter Georgiens besser beschreibt als viele Worte: Eine Karawane von Kamelen zieht durch die Hauptstraße der Stadt, den heutigen Schota-Rustaweli-Prospekt, denn in Georgien treffen Europa und Asien aufeinander. Es gehörte schon zu Marco Polos Zeiten zu jenem - wie es heute heißt - »Transportkorridor«, durch den Waren aus dem Nahen und Fernen Osten über Russland oder das Schwarze Meer ins südliche und westliche Europa gebracht wurden.
Seit Eduard Schewardnadse 1992 das Präsidentenamt übernahm, wird von offizieller Seite die »Neue Seidenstraße» als Entwicklungskonzept propagiert. Wo jedoch einst Karawanen wanderten, führen heute aus Aserbaidshan kommende Pipelines über Land. Die Metapher der »Neuen Seidenstraße« wirkt romantisierend und birgt eine fatale Irreführung. Denn es ist nicht mehr wie früher ein Handelsweg, der Wirtschaft und Kultur der von ihm durchquerten Gebiete prägt. Vielmehr fließen heute Erdöl und Erdgas wie auf Autobahnen von Ost nach West: schnell und in großen Mengen. Die Einkünfte, die Georgien in den kommenden Jahren aus den Transitgebühren für die Pipelines haben wird, sind voraussichtlich nicht groß genug, um damit der Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen. Nach einer Studie des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien von 1999 dürften sie nur einen Bruchteil des Kapitals ausmachen, das für die umfassende Entwicklung des Landes als notwendig erachtet wird. Jedoch ist der Öl- und Gastransit der einzige Sektor, in dem derzeit nennenswerte Investitionen nicht zuletzt aus dem Ausland getätigt werden.
Auch die Landwirtschaft befindet sich in einem höchst entwicklungsbedürftigen Zustand. Eine im Jahr 1995 durchgeführte Bodenreform hat die gesamte Nutzfläche unter Familienbetriebe aufgeteilt, die heute in der Regel Felder von einem Hektar Größe bewirtschaften. Dadurch werden Anbau und Vermarktung der Produkte für die Landwirte zu einer aufwendigen, wenig einträglichen Angelegenheit. Georgiens Landwirtschaft ist wenig mechanisiert und oft kaum mehr als eine Subsistenzwirtschaft.
Erschwerend kommt hinzu, dass seit Erlangung der Unabhängigkeit drei Kriege Zehntausende von Menschenleben gekostet und große Zerstörungen angerichtet haben. Besonders die Wunden des brutal geführten Krieges um die sich abspaltende Provinz Abchasien sind täglich präsent. Dies betrifft nicht allein die getöteten Freunde und Angehörigen, die verlorenen und zerstörten Schwarzmeerorte Suchumi, Pizunda und Gagra, die jeder Georgier aus Sommerurlauben kennt. Seit acht Jahren leben mehr als 100.000 Flüchtlinge georgischer Nationalität aus Abchasien über das Land verstreut in ehe ma li gen Hotels, Wohnheimen und Sanatorien und warten darauf, in ihre Heimatorte zurückkehren zu können.
Abchasien, zu dem etwa die Hälfte der georgischen Schwarzmeerküste gehört, wird bis auf weiteres von russischen »Friedens truppen« kontrolliert - eine Einigung über den Status dieser Region ist nicht in Sicht.
Nach Angaben der Grünen Partei Georgiens soll in Abchasien von den Militärs ein starker Raubbau an den Wäldern betrieben werden. Das Holz gehe nach Russland, heißt es, wobei beim Einschlag auch vor Nationalparks nicht halt gemacht werde.
Dennoch hofft die Regierung Schewardnadse auf eine Rückkehr zu politischer Stabilität in der Kaukasus-Region - sie erhofft sich diesen Effekt besonders vom geplanten Bau der neuen Pipeline von der aserbaidshanischen Hauptstadt Baku über Tbilissi zum türkischen Hafen Ceyhan. Wo der Westen investiert, werde er auch für Ruhe sorgen, so etwa die Philosophie. Dass gerade solche Trassenbauten mit sehr viel Unruhe verbunden sein können, wenn der Westen und Russland involviert sind, haben die Kriege in Abchasien und Tschetschenien gezeigt.
Die Versuchung heißt WTO
Gia Gatschetschiladse, Mitglied der georgischen Grünen und ehemaliger Parlamentsabgeordneter, erzählt auch von den illegalen Waldeinschlägen, die in fast allen Teilen des Landes derzeit zu enormen Verlusten führen. Teilweise sei es die ländliche Bevölkerung, so Gatschetschiladse, die sich angesichts der herrschenden Energiekrise mit dem Holz als Brennstoff behelfe. Die Stromversorgung ist im gesamten Land instabil; schon seit mehreren Jahren verbringt die Mehrzahl der Georgier den Winter ohne Heizung. Der Großteil des Holzes jedoch wird für den Export nach Armenien und in die Türkei geschlagen - südliche Nachbarländer, in denen es so gut wie keinen Wald gibt. Im Gegensatz dazu ist das georgische Territorium zu 40 Prozent von dichten Baumbeständen bedeckt.
Ein im Parlament verabschiedetes Gesetz
über ein Verbot des Handels mit illegal geschlagenem Holz konnte allerdings unter dem Druck von Weltbank und World Investment Fonds nicht in Kraft treten. »Sie sagen, dieses Gesetz widerspreche dem Prinzip des Freihandels«, sagt Gatschetschiladse. »Doch welchen Sinn hat der, wenn dadurch die natürlichen Grundlagen eines Landes zerstört werden?«
In diesem Sinne widersprechen die Grünen auch vehement dem Vorhaben der Regierung, der WTO beizutreten. Das hätte katastrophale Folgen für eine ohnehin schon ausgelaugte Ökonomie, sagt Gatschetschiladse. Noch mehr Waren aus dem Ausland kämen ins Land und würden die Chancen auf eine Rückkehr zu eigener Produktion weiter senken. »Wir haben im Parlament Broschüren verteilt, in denen wir über Konsequenzen des Beitritts aufklären. Die meisten Abgeordneten meinten jedoch: Das ist schon richtig, aber was sollen wir tun, es handelt sich um einen politischen Schritt ...« Als 2000-Mitglieder-Partei haben die georgischen Grünen dennoch einiges erreicht. So wurden 1998 der Bau von Atomkraftwerken und die Lagerung von Nuklearabfällen auf georgischem Boden gesetzlich verboten.
Hauptquelle umweltzerstörenden Verhaltens sei die Armut, in der die Bevölkerung mehrheitlich lebt, meint Gatschetschiladse. Nach Schätzungen der Georgian Times verfügen gerade fünf Prozent der Einwohner über ein mehr oder weniger stabiles Einkommen, diejenigen nämlich, die im privaten Sektor arbeiten. Angestellte in Staatsunternehmen oder im öffentlichen Dienst erhalten geringe Gehälter, die oft monatelang nicht ausgezahlt werden. Ebenso verhält es sich mit den Altersrenten, die bei einem Zehntel des Existenzminimums liegen. »Für die meisten Menschen ist es wichtig, alles so billig wie möglich zu kaufen. Billigprodukte sind aber oft die umweltschädlichsten«, sagt Gatschetschiladse. »Aber die Leute kümmern sich nicht um die Umwelt, solange sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder und sich selbst ernähren sollen.«
Mit dem Handelspartner Virgin-Islands auf Tuchfühlung
Wenn Georgien seine Tore weit nach Westeuropa öffnet, so hat das verschiedene Gründe: Das christliche Selbstbewusstsein vieler Georgier lässt Europa als natürlichen Alliierten gegen die muslimischen Nachbarn und deren Orientierung auf den Nahen Osten erscheinen. Russland hat sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten als übermächtige Großmacht gezeigt, die ihre eigenen Interessen ungeachtet der Bedürfnisse Georgiens und häufig auf dessen Kosten verfolgt. Zudem steht Moskau für viele Georgier im Abchasienkonflikt auf Seiten der abtrünnigen Region. .
Zugleich richten sich die Hoffnungen auf den Westen als Wirtschaftspartner. Die Industrieproduktion ist nach Angaben des State Departments for Statistics of Georgia zwischen 1989 und 1999 auf etwa zehn Prozent des Durchschnittswertes von 1985-89 gesunken. Tatsächlich aber dürfte die indus trielle Basis in einem noch desaströseren Zustand sein. Hohe Produktionskosten und fehlendes Innovationskapital haben dazu geführt, dass zirka 40 Prozent der Industrieunternehmen brachliegen. Die Konsequenzen dieses Verfalls sind: hohe Erwerbslosigkeit, wenig Kaufkraft, so gut wie kein Export industrieller Fertigwaren, eine dementsprechend hohe Importrate fast aller Industriegüter. Für große Teile der Bevölkerung bedeutet das Verarmung. Importprodukte sind entweder unerschwinglich oder häufig von minderwertiger Qualität. Da aus Gründen der Geldknappheit vielfach Kommunen und private Haushalte weder für Strom noch Wasser zahlen können, fällt die Versorgung häufig aus. Der gesetzlich festgelegte Mindestlohn liegt bei 100 Lari (*), während die Armutsgrenze mit 108,6 Lari angegeben wird. .
In der Rangfolge der Länder, die nach Georgien exportieren, zeigt der Georgia Statistical Review einige Überraschungen: An erster Stelle steht Russland (18,6 Prozent), gefolgt von der Türkei (11,8), Aserbaidshan (10,7), den USA (9,1) und den Virgin-Islands (6,3), dann erst schließen sich Deutschland (5,1) und Bulgarien (4,7) an. Russland exportiert Strom, Aserbaidshan Erdöl - der zweite Platz der Türkei in der Rangliste der Exportnationen bestätigt deren Führungsrolle bei Nahrungsmitteln. Die Erklärung für den fünften Platz der Virgin-Islands (Jungfern-Inseln) im Exportgeschäft liegt darin, dass viele Exportgüter über dieses Steuerparadies in der Karibik deklariert werden, um Kostenbelas tungen von Waren zu umgehen. .
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(*) Der Lari ist künstlich an den Dollar gekoppelt und wird vom Kurswert ziemlich genau zwischen einer DM und einem US-Dollar gehandelt.
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