Verhältnisse In der Ukraine-Krise wird die Beziehung zwischen Deutschland und Russland erneut auf die Probe gestellt. Eine kurze Geschichte eines wechselvollen Mit- und Gegeneinanders
Ausgerüstet mit russischen Sprachkenntnissen, einer Ausbildung als Osteuropahistoriker und zwei Koffern stand ich im Dezember 1991 vor der Tür eines mächtigen Wohnhauses in Moskau. Wie ich später erfuhr, handelte es sich um ein Stalingebäude. Das stehe für Qualität, sagt der Volksmund, damals sei noch solide gebaut worden. Ein Jahr würde ich hier leben, um für die sowjetische Nachrichtenagentur TASS als Redakteur zu arbeiten.
Diese Zeit war, frei nach Maxim Gorki, eine Universität des Lebens für mich. Das Land war im Umbruch, nur knapp eine Woche nach meiner Ankunft trat Staatspräsident Michail Gorbatschow zurück, wenig später wurde die rote Flagge über dem Kreml ein- und die russische Trikolore aufgezogen. Vorbei de
Vorbei der Kalte Krieg, die Angst vor einer militärischen Auseinandersetzung, im schlimmsten Falle eines nuklearen Infernos. Viele Neugierige kamen nach Russland, vor allem Journalisten: Sie wollten über die größte Geschichte des Jahrhunderts berichten, über den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Standen die deutsch-russischen Beziehungen vor einem vielversprechenden Neuanfang? Konnte Russland – ähnlich wie die neuen Bundesländer und die Staaten Zentral- und Osteuropas – Teil eines demokratischen Großeuropas werden, möglicherweise sogar Teil der EU?In diesen Tagen muss ich an jene Zeit häufiger denken. Nun, da ausgelöst durch die Krise in der Ukraine das Verhältnis der Deutschen zu den Russen oft thematisiert und, so zumindest hat man den Eindruck, auf den Prüfstein gestellt wird. Was verbindet uns mit den Russen? Was trennt uns von ihnen? Uns heißt natürlich in diesem besonderen Fall Ost- und Westdeutsche getrennt voneinander, denn in den Jahren 1945 bis 1989 haben beide Teile Deutschlands sehr unterschiedliche Erfahrungen mit der Sowjetunion gemacht, das Land aus zwei sehr verschiedenen Perspektiven betrachtet. Wie also ist es um das Verhältnis zwischen Russen und Deutschen bestellt? Es bleiben folgende Daten: das Jahr 1989, das Jahr 1945 und das Jahr 2014. Aber um die Beziehung der beiden Länder zu verstehen, muss man bis in das 19. Jahrhundert zurückgehen. Aber dazu gleich.Kurz zurück in das Jahr 1992, in die dramatischen Regierungsmonate von Boris Jelzin: Die Stimmung war trotz einer Hyperinflation, die die privaten Ersparnisse in kürzester Zeit auffraß, erst einmal sehr euphorisch. Die Menschen zeigten sich offen und zuvorkommend, Ausländer wurden herzlich empfangen; der Wunsch, Meinungen auszutauschen, war nach den vielen Jahren der Abschottung riesig. Und die Jahrzehnte der Konfrontation schienen vergessen, die gegenseitige Kritik, die Vorbehalte und die Kriegsangst.Jahrhundertelang hatten die Deutschen auf eine Art doppeltes Russland geschaut. Bereits im 16. Jahrhundert bemerkte Siegmund Freiherr zu Herberstein, Neyperg und Guettenhag, Gesandter der Kaiser Maximilian I. und Karl V. am Hof des Großfürsten von Moskau: „Es ist ein Zweifel, ob solch ein Volk eine solche schwere Herrschaft haben muss oder ob die grausame Herrschaft so untaugliches Volk macht.“ Auf der einen Seite also das geschundene Volk, auf der anderen ein brutaler Despot. Dazu der russische Publizist Edward Radsinski: „In Russland ist es einfacher sich vorzustellen, dass es kein Volk gibt, als dass es keinen Zaren gibt.“ Wobei unsere Sympathie keineswegs immer auf der Seite der Geschundenen lag. Wenn es darauf ankam, fanden die autoritären Mächte hier leicht eine gemeinsame Sprache mit den Unterdrückern dort. Der russische Staat konnte sich beispielsweise der preußischen Hilfe bei der Niederschlagung von zwei polnischen Aufständen im 19. Jahrhundert sicher sein. Die Sympathien der deutschen Liberalen hingegen lagen bei den Polen.Im 19. JahrhundertÜber die Zustände in Russland war man vor allem durch zwei Bücher informiert: durch die Briefe aus Russland von Marquis Astolphe de Custine, der 1839 durchs Land gereist war. Er schreibt über die Gleichzeitigkeit von „Barbarei“ und „extremer Zivilisation“. Nur wenige Jahre später erschienen die Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Russlands von August Freiherrn von Haxthausen, einem preußischen Experten für Landwirtschaft. Er ist im Gegensatz zu de Custine optimistisch und prophezeit: „Russland geht in seiner inneren Entwicklung einer großen Zukunft entgegen.“In beiden Berichten finden sich exemplarisch die beiden Sichtweisen auf Russland im 19. Jahrhundert. Zum einen die überwiegende Kritik an der staatlichen Unterdrückung der Bürger, die man mit dem Fehlen einer Aufklärung sowie einer französischen oder späteren europäischen Revolution erklärte und aus der die Furcht vor dem unterentwickelten, gewalttätigen und unberechenbaren Russland erwuchs. Zum anderen das staatliche Wohlwollen gegenüber einem autoritären Land, das ähnlich wie Preußen gegen liberale Strömungen mit harter Hand vorging.Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich hier dann ein neues Thema, das bis heute nicht verschwunden ist: der einfache Mensch und seine russische Seele. Der Ursprung liegt in den Werken der Schriftsteller Fjodor Dostojewski und Lew Tolstoi. Deutsche Intellektuelle begannen, sich Gedanken über den unverdorbenen russischen Menschen zu machen; seine Lebensart schien eine Alternative zur westlichen Lebensform zu sein.Dieses Motiv gewann insbesondere nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 an Bedeutung. Viele Schriftsteller machten sich auf den Weg gen Osten, um sich ein politisches Gesellschaftssystem anzuschauen, das nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges endlich für langfristigen Frieden und soziale Gerechtigkeit sorgen könnte. Die Journalisten Joseph Roth und Egon Erwin Kisch berichteten bunt und grell. Das heraufziehende Unheil sahen manche nicht, so wie Lion Feuchtwanger, der in seinem Buch Moskau 1937 die Schauprozesse Stalins rechtfertigte. Gleichzeitig erlebten die deutschen Leser eine Flut von russischer Literatur. Denn es stellten sich auf einmal Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Russen ein, die es so noch nicht gegeben hatte. Der Erste Weltkrieg hatte in beiden Ländern Wunden geschlagen, beide kamen als Verlierer heraus und hatten Gebiete an das auferstandene Polen abtreten müssen. Die Russland-Rezeption von Staat und Gesellschaft glichen sich in Deutschland immer mehr an.So begann eine Ostorientierung Deutschlands, trotz der Unterschiede zwischen den Ländern. Der Publizist Gerd Koenen spricht in seinem Buch Der Russland-Komplex von einer „doppelten Asymmetrie“: Auf der einen Seite das Verständnis der Deutschen, in Kultur und Wirtschaft überlegen zu sein, auf der anderen Seite die Russen, die in Fragen der Machtpolitik und Moral übermächtig zu sein schienen. Und doch glaubten beide durch geschichtliche Gemeinsamkeiten verbunden zu sein. Dazu zählt das Selbstverständnis, verspätete Nationen auf einem Sonderweg zu sein.Der Vernichtungskrieg Deutschlands gegen Russland beendete dann zunächst diese bemerkenswerte Annährung. Stattdessen Zerstörung, Plünderung, Morden. Über 30 Millionen Menschen starben auf beiden Seiten, weitaus mehr Russen als Deutsche. Als Ergebnis des Krieges verschob sich die Grenze der Sowjetunion nach Westen. Das ostpreußische Insterburg, eine kleine Stadt unweit von Königsberg und Geburtsort meines Vaters, heißt nun Tschernjachowsk. Deutschland wurde geteilt. Die Sowjetunion stationierte ihre Truppen in der DDR, ein Nachbarschaftsverhältnis der besonderen Art begann.Während US-amerikanische und britische Soldaten nach 1945 durchaus als Befreier gesehen wurden, galt das für die sowjetischen nicht. Sowjetunion und Freiheit war ein unmögliches Wortpaar, eine contradictio in adiecto. Nicht so in Russland. Dort wird bis heute am 9. Mai eine Parade auf dem Roten Platz abgehalten. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg ist das Fundament der russischen Identität. Für einen Deutschen, der jemals an einer dieser Feierlichkeiten teilnehmen durfte, sind das sehr ergreifende Momente.Nach 1945Da fällt kein böses Wort über Deutschland. Nicht in meiner Gastfamilie, die in dem Stalinbau wohnt, oder von irgendeiner anderen Person, die ich während meiner jahrelangen Aufenthalte in Russland getroffen habe. Im Gegenteil, große Anerkennung und ständige Verweise, dass sich das Land nach 1945 ordentlich verhalten habe. Damit sind nicht nur die freundschaftlichen Beziehungen zur DDR gemeint; auch die Brandt’sche Ostpolitik fällt darunter. Diese Erzählung ist einfach, aber wirkmächtig: Die Gräueltaten seien von Faschisten verübt worden. Und die Deutschen? Die hätten, so die gängige Erklärung, nach dem Krieg genauso gelitten wie die Russen. Kaum nachzuvollziehen. Da werden Russen und Deutsche gleichermaßen in einer Opferrolle gesehen, obwohl Deutschland eindeutig Täter war. Die Sowjetunion dagegen war beides, insbesondere durch die von Stalin angeordneten massiven Verfolgungen und Ermordungen von Oppositionellen in den dreißiger Jahren. Und Deutschland führte einen industriellen Massenmord gegen Juden sowie Sinti und Roma durch, von den Kriegsverbrechen der Wehrmacht ganz zu schweigen.Doch in Russland hält sich der Mythos der zwei Opferländer. Vielleicht liegt hier sogar ein Grund, warum Michail Gorbatschow einer Wiedervereinigung so wenig entgegensetzte. Für uns symbolisiert er den guten Russen. Seine Politik der Perestroika und Glasnost, die mit zur Wiedervereinigung führte, haben das Russland-Bild in den vergangenen 25 Jahren dramatisch verändert: vom gefürchteten Feind in einen fast geliebten Nachbarn. Das negative Bild der Sowjetunion übertrug die Mehrheit der Deutschen nicht auf Russland. Eigentlich eine neue Chance.Und das, obwohl Deutschland sich seit 1945 eindeutig anders orientiert hat, wie zuletzt der Historiker Heinrich August Winkler in seinem Buch Der lange Weg nach Westen analysiert hat. Deutschland sucht seine Zukunft in einem geeinten Europa, in der EU. Dies fand seine Vollendung in deren Osterweiterung. Für diese Vision eines friedlichen, postnationalen Europas würde es eben auch Russlands bedürfen.Doch das Land entwickelte sich anders. Zu groß und unklar waren die Ambitionen der Reformer, zu groß der Widerstand in der Bevölkerung. Eigentlich wenig verwunderlich, doch stets Anlass für neuerliche Kritik aus dem Westen. Unter der Präsidentschaft Boris Jelzins begann Russland erneut zum Negativbild zu werden. Zwar erfolgte eine Annäherung an den Westen durch die Mitgliedschaft im Europarat, aber auf der anderen Seite beschossen Panzer auf Befehl Jelzins das Parlament. Gegen die Teilrepublik Tschetschenien wurde Krieg geführt. Und Moskau vermochte nicht, den Rückschritt von einer Großmacht zu einer Mittelmacht zu verkraften.Viele Deutsche hatten in jener Zeit Mitleid: Die ältere, arme Frau vor einer Moskauer Luxusboutique wurde zu einer Art Ikone. Während man den empörten Aufschrei Wladimir Putins gegen diese westliche Arroganz auf der Sicherheitskonferenz in München 2007 durchaus verstehen konnte, kritisierten die Medien die Rede als Beweis für die Aggressivität eines schwachen Landes. Endgültig zum Bruch jedoch kam es dann, als Putin sich im Jahr 2012 mit einer Verfassungsänderung wieder zum Nachfolger seines Nachfolgers Dmitri Medwedew erklärte. Das ermöglichte ihm seine dritte Amtszeit, möglicherweise sogar eine vierte. Die jungen, gebildeten Schichten in Moskau gingen dagegen auf die Straße, sie konnten sich der Sympathie des westlichen Auslands sicher sein.Nun sind wir in der Gegenwart angekommen. Seit dieser Rückkehr Putins vor zwei Jahren ist die Diskussion um die richtige Russlandpolitik nicht mehr zur Ruhe gekommen. Nach der Angst im Kalten Krieg und dem Mitleid in Zeiten der Transformation hat nun die Kritik die Oberhand gewonnen. Sie unterscheidet zwischen Staat und Gesellschaft und richtet sich gegen fehlende Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, mangelnde Einhaltung internationaler Verpflichtungen sowie Korruption und Bereicherung der Elite. Hinzu kommt das Unverständnis, dass Moskau seine Anrainerstaaten nicht über ihr Schicksal entscheiden lassen will, sondern Einflusssphären für sich reklamiert. Kurzum, die Ernüchterung darüber, dass Russland sich anders entwickelt hat, als einst erhofft, ist groß. Auch wenn viele, die mit dem Land intensiver zu tun haben, von vielen gesellschaftliche Kontakten, Städtepartnerschaften und florierenden Wirtschaftsbeziehungen erzählen.Es besteht Uneinigkeit darüber, wie man mit diesem Widerspruch umgehen soll. Welche Rolle soll Russland aus unserer Sicht in Zukunft in Europa spielen? Zentrale Frage dabei: Welche Ziele hat eigentlich Russland selbst? Insbesondere der Krieg in Georgien 2008 und die momentane Krise in der Ukraine lassen viele Beobachter ratlos zurück. Oft wird nun wieder die schon erwähnte russische Seele oder der Ausspruch des Dichters Fjodor Tjuttschew zitiert: Russland sei mit dem Verstand nicht zu begreifen, man könne an das Land nur glauben.Das ist natürlich Unsinn. Russlands Handeln ist durchaus zu erklären, es ist sogar nachvollziehbar. Das Land will die Schmach der schwachen neunziger Jahre vergessen machen. Russische Historiker vergleichen unsere Situation nach dem Ersten Weltkrieg mit denen Russlands nach 1991. Das verfängt offenbar auch bei vielen Deutschen: Sie glauben, gute Gründe für die Politik Putins, auch gegenüber der Ukraine, zu erkennen. Die demokratischen Defizite werden dabei zwar nicht bestritten, aber auch nicht in den Vordergrund gestellt. Sie sehen Russland als ein Land, das eigene Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen hat und sie wahrnehmen darf. Sogar einige Völkerrechtler bringen Verständnis für Moskau auf.In der GegenwartDahinter steckt auch eine große Enttäuschung über die USA, die als verbliebene Supermacht die Chance des Aufbaus einer friedlichen Welt nach 1991 nicht genutzt haben. Schlimmer noch, die USA haben mit ihrem militärischen Eingreifen, vor allem im Irak, die Funktion als moralische Instanz verloren. Und Wikileaks und Edward Snowden und der NSA-Skandal und die Arroganz gegenüber dem alten Europa. Dafür stehen die vielen Dokumente, die beispielhaft in der verächtlichen Aussage der hochrangigen US-Diplomatin Victoria Nuland gegenüber der EU steckt.Ein gewisses Unbehagen der Deutschen gegenüber Amerika hat nie aufgehört zu existieren. Das liegt an der Sehnsucht, doch einmal nur so souverän und selbstbewusst aufzutreten wie die USA. Gleichzeitig haben die russische Aufmerksamkeit und die quasi Sonderbeziehungen zu Deutschland vielen Eindruck gemacht. Es gefällt, wenn das größte Land der Welt vor allem auf eine Kooperation mit Deutschland setzt.Aber gerade das stößt auf Bedenken bei den zentraleuropäischen EU-Mitgliedern. Denn dort fürchtet man, wie eben nicht zum ersten Mal in der Geschichte, ein Verständnis der beiden großen Staaten auf Kosten der kleinen, die dazwischen liegen. Die werden in Deutschland leider allzu häufig vergessen. Bei dem Nachdenken über ein zukünftiges Verhältnis zu Russland muss es um ganz Europa gehen. So wie an jenem Abend vor mehr als 20 Jahren, als die russische Nationalflagge zum ersten Mal über dem Kreml im Wind flatterte und all die damals gerade wieder unabhängigen zentral- und osteuropäischen Staaten auf eine lichte Zukunft hofften.
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