Das Schlimmste an Umzügen sind die Bücher. Noch der kleinste Karton wird mit ihnen zu einer niederdrückenden Last. Eine Last, das kommt erschwerend hinzu, die bei mir kein Ende nimmt.
Zugegeben, das Klavier war auch nie eine Freude. Aber es warnte wenigstens jeden nahenden Umzugshelfer schon von weitem. Ein Klavier strahlt Umzugsunwillen aus. Dickköpfig kantet es sich an jeder Ecke des Treppenhauses fest und sein Widerstand weicht erst der vereinten Gewalt sechs schwitzender und fluchender Freunde. War es aber einmal bezwungen und stand - das noch kahle Zimmer in edlere Sphären erhebend - endlich an seinem neuen Platz, durchströmte Stolz die versammelte Mannschaft - und manchmal eine Spur von Erhabenheit. Wir zündeten uns schnaufend eine Kippe an und klopf
und klopften dem Bezwungenen anerkennend auf die schwarz lackierte Schulter. Er war ein guter Gegner gewesen. Es war ein guter Kampf.Die Bücher hingegen sehen in ihren kleinen Kartons, die ich über Wochen in den umliegenden Discountern gesammelt habe, so harmlos aus. Fast süß. Etwas, das man mal schnell unter den Arm klemmt und mitnimmt. Die Sache hat natürlich einen Haken.Kaum hat man die losen Bücher in einer dieser wirklich winzigen Kisten versammelt, verbünden sich die vormals leichten, tragbaren, hilfreichen und harmlosen Druckwerke zu einem massiven Klumpen purer Schwerkraft. Sie sind der viel gefährlichere Feind.Vor dem letzten Umzug gewahrte ich die Folgen solch verlorener Schlachten: Rolf, ein wahrer Kumpel, der mir aus üblen Klemmen geholfen hatte, der nie ein Feigling gewesen war, druckste herum und hatte ganz plötzlich wichtige Termine. Martin war ehrlicher und deutete etwas von Depressionen an. Ich legte auf und schluckte meinen Ärger herunter. Mir war klar, dass etwas geschehen musste.Die Sache musste methodisch angegangen werden. Messergebnisse mussten her. Erste Hochrechnungen ergaben für mein Arbeitszimmer eine Länge von 100 Regalmetern. Das ist viel, das gebe ich zu. Bei den Wohnungsbesichtigungen hatten manche das Zimmer betreten, den Blick über die Buchreihen schweifen lassen, dann hastig den Raum verlassen und irgendwie verstört gewirkt.Ich hatte noch zwei Wochen.Für den Anfang beschloss ich, es mit den zwölf Bänden Marx-Engels-Werke zu versuchen. Der Antiquar um die Ecke begrüßte mich so herzlich, wie man gute Stammkunden begrüßt. Stammkunden, die etwas kaufen. Seine Herzlichkeit kühlte merklich ab, als er die Kiste unter meinem Arm gewahrte. "So so, Marx-Engels-Werke?" begann er unsicher und mit der neuen Situation etwas überfordert. "Nun ja. Gut, gut. Liest ja heute kein Mensch mehr. Hmm." Missbilligend zog er die Mundwinkel nach unten. Weit nach hinten gebeugt streckte er den Arm vor und schupste ruppig die Seiten hin und her. Er stöhnte. Er seufzte. Er litt. Kopfschüttelnd teilte er schließlich mit: "Mit den Schmierereien kann ich das kaum noch loswerden". Ich begann zu zweifeln, ob dies derselbe Mann war, der mich immer freundlich gegrüßt und verschwörerisch den neuesten Klatsch aus dem Viertel erzählt hatte, um dann kostbare Werke unter der Theke hervorzuholen, die er behandelte wie ein liebender Vater. Er blickte mich nicht an, als er eisig sagte: "Sechs. Mehr kann ich dafür nicht geben." Ich war wütend. "Sechs? Sechs Euro?? Ich hab damals zehn bezahlt!""Alle zusammen. Nicht pro Band." Seine Stimme war Trockeneis.Ich weiß nicht, wie ich den Heimweg bewältigte. Mir drehte sich noch alles vor den Augen, als ich mit meinen Büchern längst wieder zu Hause angekommen war und hilflos versuchte, das Geschehene zu begreifen. Ich weinte ein wenig und trat trotzig das nächststehende Bücherregal, das unbeeindruckt stehen blieb: zuviel Masse.Es brauchte eine Weile, bis mir etwas dämmerte: War es nicht absehbar, dass der Protokapitalismus mir die kalte Schulter zeigte, sie mir regelrecht ins naive Gesicht stieß? Weshalb tat ich so überrascht? In den Bänden, die ich verkaufen wollte, war das alles doch prophezeit worden! In dunkelblaues Kunstleder eingefasst und mit einer edlen Firnis von Nikotin und Rotweinflecken versehen, lagen sie vor mir und grinsten mich hämisch an.Die Wohnungsbesichtigung kam mir in den Sinn, die Interessenten, die verstört aus dem Bücherzimmer geflüchtet waren. Niemand blieb je gleichgültig, wenn er es betrat. Man konnte zwei Gruppen von Menschen unterscheiden: die Verstörten und die, die zwischen den Büchern sofort zu Hause waren. Erstere hielten sich nie lange auf (was mir gelegen kam). Mit letzteren hingegen kam ich (fast) immer gut aus. Mit manchen sogar ausgesprochen gut. Es war, als hätten die Bücher der Liebe eine besondere Welt geschaffen, bunt und warm. Vielleicht war es aber auch umgekehrt. Vorher war mir das nie aufgefallen. Die vielen bedruckten Papierseiten hatten eine Seele entwickelt, einen Geist. Mindestens aber Aura und Präsenz. Und diese Präsenz hatte mit der bloßen Masse soviel zu tun, wie das fein geschnittene Papiergewebe mit rohem Holz. Vor langer Zeit hatte ich das gewusst, aber im Laufe der Jahre vergessen, mich daran gewöhnt und schließlich einfach das Gespür verloren. So, wie es in langen Ehen ist. Im Lauf der Zeit begann in den billigeren Drucken die Schrift zu verblassen. Manche Seiten wurden dunkler und manche bekamen Altersflecken wie ich selbst. Ich erschrak, als ich das bemerkte und streichelte die Stellen."Schmierereien" hatte der Antiquar gesagt, und natürlich hatte er irgendwo recht. Meine "Anmerkungen", Anstreichungen und Durchstreichungen waren teils langweilig, teils arrogant und größtenteils größenwahnsinnig. "Hier irrt Marx." Aber - sie waren meine Arbeit am Text. Indem ich sie befleckte, ihnen die autoritäre Reinheit raubte, machte ich die Bücher zu meinen Büchern. Kein Wunder, dass niemand das haben wollte. Außer mir.Den Büchern war klar, dass ich jedes einzelne von ihnen - notfalls zu Fuß - in die neue Wohnung tragen würde.Ich erinnerte mich an die Vernichtungsorgien, als ich im Lager des Schauspiels gejobbt hatte. Da hatten wir im Schichtdienst Kulissen von abgelaufenen Produktionen zertrümmert. Mit schweren Vorschlaghämmern, Kettensägen und Schneidbrennern. Das machte Spaß.Eines Tages kam der Nachlass einer Nathan-Produktion, für die das Theater bei Trödlern zwei Tonnen Buchwerk bestellt hatte, die nunmehr "entsorgt" werden mussten. Seltsamerweise gingen wir an diesem Tag nicht sofort an die Arbeit. Vielmehr wühlten wir alle in den Bücherbergen, hockten uns hin und lasen. Der Vorarbeiter musste uns mehrmals ermahnen, bis wir das Zerstörungswerk in Angriff nahmen.Da fand ich zwischen Via Mala, Serengeti darf nicht sterben und unzähligen Simmels einen schmalen Band aus den Vierzigern. Einen Almanach. Das Wort kommt aus dem Arabischen und bedeutet soviel wie "Neujahrsgeschenk". Er war mit schalen Sprüchlein von Blut und Boden gefüllt, die unter bizarren Scherenschnitten von nackten Soldatenoberkörpern prangten. Vorn war handschriftlich eine Widmung an den "Lieben Sohn an der fernen Front" eingetragen und mit einem Frauennamen unterzeichnet. Direkt unter dem Hakenkreuz. Darauf aber prangte ein Stempel, der das Ableben des Adressierten feststellte und Rücksendung veranlasste.Wer mochte diese Frau gewesen sein? Wer ihr Sohn? Die Handschrift wirkte unbeholfen und die nächstliegenden Bücher, die aus den Beständen derselben Frau erst in den Besitz des Trödlers, dann des Theaters gelangt waren, gaben ein verschwommenes Bild ihrer Existenz. Ihrer Einfachheit und ihres Vergessenwerdens, dem sie mit diesem Neujahrsgeschenk noch einmal für einen Augenblick entrissen war.Ich nahm den Band und steckte ihn ein. Ich konnte ihn nicht zerstören. Manchmal sind Bücher eine Frage von Leben und Tod.
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