Freundin, Exfreundin

Kehrseite II Am Abend werde ich sie anrufen, ein schneller Anruf aus dem Treppenhaus, Münztelefon, unter den Füßen schwarze Fliesen. Aber noch liege ich auf der ...

Am Abend werde ich sie anrufen, ein schneller Anruf aus dem Treppenhaus, Münztelefon, unter den Füßen schwarze Fliesen. Aber noch liege ich auf der Pritsche in der Umkleide und höre Musik. Es ist Pause, es ist mal wieder eine Stunde totzuschlagen vor Beginn der Aufzeichnung. Spielshow. Alles ist schon aufgebaut. Die Bühnenarbeiter lesen Reclamhefte im Aufenthaltsraum. Ich denke nach: Wie es ist, eine On/Off-Beziehung zu führen. Jemand kommt herein, öffnet einen Schrank, holt ein mattgrünes Handtuch heraus, schließt ihn wieder. Ein zweiter Kollege nähert sich, zwei Blicke, während ich immer noch auf der Pritsche liege, mit den Stöpseln in den Ohren. Ein Blick von oben, einer von unten, dann irgendein Kommentar. Ein Schmetterling, der ihm aus dem Mund weicht. Ich nehme einen Stöpsel raus und lächele ihn freundlich an. Ein Nicken. Dann stecke ich den Stöpsel zurück ins Ohr. Der Schmetterling prallt mehrmals gegen ein geschlossenes Fenster. Früher war das Leben derer im Fernsehen aufregender als das eigene, überlege ich weiter. Inzwischen ist es umgekehrt. Was nicht daran liegt, dass das eigene Leben plötzlich so wild geworden ist. Es liegt eher daran, dass das Leben im Fernsehen so vorhersehbar geworden ist.

Ich weiß: 95 % aller Geschlechtsakte finden innerhalb einer festen Beziehung statt. Ich weiß nicht, ob das, was wir haben, die Zuschreibung "fest" verdient. Zu oft ergehen wir uns in dunklen Andeutungen. Zerfließen in Widersprüche. Meine Freundin ist eine begehrte Frau, und sie weiß das, und sie spielt das aus. Schon als ich sie das erste Mal küsste, stieg eine Ahnung von Vergeblichkeit auf. Von Verlust. Sie beißt mir ins Ohr und krabbelt schnippisch über meine Brust. Ohne Scheu, ohne Scham. Billig und stolz. Unterdessen wuchert mein Ohr vor sich hin, nie war ich van Gogh so nahe. Hatte ich nicht eben erst ein Lied gehört, das Apologies to Insect Life hieß? Alles Lüge. Von mir aus könnte die Welt ohne Insekten stattfinden. Ich werfe einen kühlen Blick auf meine Freundin und schnippe sie weg.

Die Schlüssel verbleiben im Hause.

Nach der Aufzeichnung rufe ich sie an, dann besuche ich sie auf einer Lesung. Sie sitzt an der Kasse. Ob sie mich umsonst reingelassen hat, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, an diesem Abend interessiere ich sie nicht. Sie interessiert sich für die, die drinnen Herrn Baecker bei der Erörterung eines soziologischen Problems zuhören wollen. Sie sitzt an der Kasse und ignoriert mich. Sie sitzt an der Kasse und trägt ein weißes Hemd, das sie sonst nie trägt. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, ich bin ihretwegen und nicht wegen des Luhmann-Schülers aus Bielefeld, ich habe auf eine Aussprache gehofft, auf ein gemeinsames Fortgehen nachher. Aber sie spricht kein Wort mit mir. Ich habe es noch nicht in die Position der anderen da drinnen geschafft, ich bin nur jemand, der auf ihrer Stufe stand. Ein Requisiteur beim Fernsehen. Ein Medienproletarier. Und sie, Doktorandin der Soziologie, sitzt an der Kasse und lächelt die aufgeschlagene Seite eines Buchs an, das sie vom Büchertisch hat. Das Buch hat einen gelben Umschlag. Ihr mondänes Gebaren finde ich überflüssig wie Glas. Sie bleibt an der Kasse sitzen wie ein schwerfälliges Insekt. Nach dem Vortrag gehe ich ohne sie. Am Himmel, außer den Sternen: nichts.

René Hamann, geboren 1971 in Solingen, lebt in Berlin. Nach zwei Gedichtbänden und kleiner Prosa erscheint im März 2007 der erste Roman, Schaum für immer, im Tisch 7 Verlag, Köln.


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