Freundliches Palaver beim Sicherheitsdienst

Kommentar Russlands Behörden auf der Suche nach dem "Extremisten für jede Gelegenheit"

Andrej Poljakov leitet die Union der Kommunistischen Jugend in Karelien an der Grenze zu Finnland. Überrascht erfährt er, dass sein Name auf einer Liste von Extremisten geführt wird, die auf lokale Behörden zurückgeht. Dabei ist die Union seit Jahren amtlich registriert und hat die Autoritäten zuvor nie interessiert. Auch hat sie weder unangemeldete Versammlungen abgehalten noch sich im April am "Marsch der Andersdenkenden" in St. Petersburg beteiligt. Aber die karelischen Behörden verwenden inzwischen viel Zeit darauf, "Kompendien der Extremisten" zu erstellen.

Olga Iwanowa, eine junge Journalistin aus Krasnodar, 1.500 Kilometer südlich von Moskau, ist derlei Aufmerksamkeit seit langem gewohnt. Der regionale Sicherheitsdienst lädt sie gelegentlich zu einem "freundlichen Geplauder" ein, um zu erfahren, wohin sie zuletzt gereist sei und wen sie dabei getroffen habe. Jüngst legte Olga Iwanowa ihren Universitätsabschluss vor, erhielt ein "Gut" und obendrein das Geständnis ihrer Professoren: Ihre Diplomarbeit hätte natürlich ein "Sehr Gut" verdient, aber da sie als Andersdenkende bekannt sei, wäre es keine gute Idee gewesen, ihr mehr als "Gut" zu geben.

Iwanowa mag sich glücklich schätzen, denn Sergej Wilkow aus Saratow an der mittleren Wolga kam weniger glimpflich davon. Am Abend des 15. Juli stürzten sich ohne Vorwarnung Polizisten des Dezernats zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität auf ihn. Die Beamten ließen Handschellen zuschnappen und stießen ihren Delinquenten auf den Asphalt. Wilkow musste 20 Minuten in dieser Haltung liegen bleiben. Danach "entdeckten" die Fahnder bei ihm vor Zeugen eine geladene Pistole und nahmen ihn in Gewahrsam. Als Wilkow schließlich gegen Kaution entlassen wurde, musste er versichern, die Region nicht zu verlassen und für erneute Verhöre verfügbar zu sein. Bald darauf belasteten ihn die Behörden mit weiteren Anklagen - so soll Wilkow einen örtlichen Nazisympathisanten bei einer Prügelei verletzt haben. Zwar musste die Polizei später einräumen, dass Sergej an diesem Kampf gar nicht teilgenommen hatte, will ihn nun aber wegen "Anstiftung" belangen.

Ich muss gestehen, etwas beunruhigt über diese Vorfälle zu sein, da ich Andrej, Olga und Sergej persönlich kenne. Erschreckt stelle ich fest, dass sie plötzlich als Extremisten gelten. Vielleicht haben sie meine Artikel gelesen, daraus die falschen Schlüsse gezogen und daraufhin versucht, das russische Establishment zu untergraben. Eines schönen Tages könnte auch ich angeklagt werden, andere angestiftet zu haben.

Seit die Duma mit ihrem Kampf gegen den Extremismus begonnen hat, nimmt die Gesetzgebung dieses Parlaments an Umfang wie an Strenge zu. Der Begriff "Extremismus" wird dabei vorsätzlich vage gehalten, was örtlichen Vollzugsbehörden ausreichend Spielraum lässt, die Erlasse so zu interpretieren und geltend zu machen, wie es ihnen passt. Typischerweise sind die Gesetze in einer Weise geschrieben, dass sie inzwischen jeden Unterschied zwischen der Ultrarechten und der radikalen Linken verwischen. Mehr noch, die Autoritäten nutzen die Gewalt der Ultrarechten, um die Linke zu unterdrücken - und nicht nur die Radikalen, sondern auch den moderateren Flügel der Bewegung. Jede Kritik an Behörden oder an der Regierung kann als Anstiftung zum Aufstand aufgefasst werden. Vollzugsbehörden wiederum sehen in den neuen Gesetzesinitiativen ein klares Signal zum entschiedenen Handeln. Sie begreifen es als Pflicht, alle Extremisten innerhalb ihrer Zuständigkeit ausfindig zu machen und zu ergreifen. Und finden sie keinen Einzigen, droht ihrer Stadt das Kainsmal, als ein überaus rückständiges Kaff dazustehen.

Der Kampf gegen den Extremismus gewinnt an Schwung. Dennoch - wir können noch hoffen, dass die gegenwärtige Kampagne im Sande verläuft, wie so viele in der jüngsten Vergangenheit - wir können noch hoffen, dass sie nichts als unangenehme Erinnerungen hinterlässt.

Boris Kagarlitzky ist Politikwissenschaftler und Leiter des Institute of Globalization Studies in Moskau


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