Fronten

Linksbündig Droht eine geschichtspolitische Akzentverschiebung?

Die Deutschen können nicht anders: sie finden sich wieder gerecht. Und gut. Und sie finden, dass sie die kritischen Blicke auf alles, was sie tun, nicht mehr verdienen, die ganz scharfe Brille müsste längst bei der Beurteilung anderer aufgesetzt werden. Denn Deutsche beweisen schließlich seit 60 Jahren Korrektheit, Stillhaltevermögen, ja sogar Mitmenschlichkeit - Ausrutscher eingeschlossen. Sie bemühen sich um ausgewogene Sprache, vermeiden es, von Patriotismus zu sprechen, Nation ist ihnen suspekt, sie kommen sich ganz selbstlos vor, wenn sie "unsere Soldaten" überall in der Welt gegen Terror und Armut und Ungerechtigkeit agieren lassen. Und sie halten sich an Spielregeln. Besser: Haben sich daran gehalten.

"Wir Deutsche" - bis vor wenigen Jahren hätte man diese Zusammensetzung vermieden - haben den Ekel über uns selbst ausgekotzt und schauen nun wieder ganz gern in den Spiegel. Hat nicht gerade Israel deutsche bewaffnete Einheiten an den Grenzen zum Libanon gefordert - trotz deutscher Geschichte, trotz verbrecherischer Vergangenheit? Das hat doch was von Absolution, jedenfalls dann, wenn tatsächlich Waffentransporte aufgebracht würden. Leisten nicht "unsere Jungs" Hervorragendes gegen den Terror?

Die Fahnen geschmückte Deutschseligkeit, die während der Fußballweltmeisterschaft erst zaghaft, dann vehement als endlich zurück gewonnene Souveränität im Umgang mit uns selbst gefeiert wurde, weicht nicht so schnell - ganze Fensterfronten sind immer noch schwarzrotgold verhängt und das eine oder andere Auto zeigt nach wie vor Flagge. Es scheint, als habe diese Seligkeit bis weit in die Parteien hinein den Blick auf die bisherigen Regeln verschwimmen lassen, die Grenze zwischen souverän und selbstgerecht ist verwischt. Das angelernte vorsichtig korrekte Vokabular kommt einigen allzu schnell abhanden und entlarvt die Nutzer im besten Fall als gedankenlos, wahrscheinlich aber ist es mehr. Seelenbalsam. Was bislang nur gedacht wurde, scheint wieder sagbar zu sein und rutscht quasi von ganz allein über die Lippen geplagter Politiker.

Das Unterbewusstsein feiert automatisch nicht nur die falschen Opfer und will sich mit einer lauwarmen Entschuldigung aus der Affäre ziehen, es ist auch unfähig, den Vorwurf zu realisieren. Er habe den Auftrag missinterpretiert, sagt Herr Hermann Schäfer und schiebt den schwarzen Peter damit der protestierenden Frau Nike Wagner zu. Aber selbst wenn es so wäre, ein Politiker dieser Republik sollte ganz ohne Auftrag Gewichtungen vornehmen können, die der Überprüfung standhalten. Ein paar Tage später werden die KZ-Gedenkstätten angewiesen, zum "Tag der Heimat" Fahnen aufzuziehen. Und auch das ein missinterpretierter, falsch verschickter Auftrag. (Wessen Heimat ist eigentlich gemeint?) Wäre es so, stünde das bundesdeutsche Staatswesen vor dem Bankrott, keine Order käme mehr an den Adressaten.

Die Bundesrepublik fällt nicht einfach ins Europa der Vaterländer zurück, sie rekelt sich in verinnerlichtem Trotz: Es muss auch mal Schluss sein mit den Vorwürfen wegen nationalsozialistischer Verbrechen, siehe Walser. Wir sind wieder wer, wir stehen "unseren Mann" an allen aktuellen Fronten. Oder: wir waren schließlich auch Opfer, gleichwertige. Darauf legen vor allem die Opferverbände wert. Und sie suchen sich ihre Verbündeten. Bei der Eröffnung ihrer Ausstellung "Erzwungene Wege" den Bundestagspräsidenten, für ihren "Tag der Heimat" zum ersten Mal auch den Bundespräsidenten. Damit haben sich im Abstand von etwa sechs Wochen die beiden höchsten Vertreter des Staates an die Seite jener gestellt, die offen oder verdeckt immer mal wieder Entschädigungen, Entschuldigungen für erlittenes Unrecht oder ähnliches fordern und sogar mit der Anrufung des Europäischen Gerichtshofs drohen. Was immer die einzelnen Ehrengäste sagen, sie nehmen in Kauf, dass sich eine Gruppe von Nachfahren der Flüchtlinge und Vertriebenen höchster Repräsentanten der Nation als Galionsfiguren eigener Interessen versichert. Zwar ließ sich der Bundespräsident nicht auf das Vokabular der BdV-Präsidentin Steinbach ein - er betonte die deutsche Schuld und versicherte, dass keine ernstzunehmende politische Kraft die Geschichte umzuschreiben wünscht - der bittere Nachgeschmack aber bleibt.

Aus der Mitte des Kontinents werden viel zu oft und zunehmend deutlichere Signale verschickt, die auf eine - so Wolfgang Thierse auf die Frage nach seinem Kommentar zu den Äußerungen Schäfers - "geschichtspolitische Akzentverschiebung" deuten.


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