Früchte der Revolte

Im Gespräch Volkmar Sigusch über die Sexfront der 68er, Sexualstraftäter und die Geschichte der Sexualwissenschaft

Freitag: Das Berliner Amerika-Haus zeigt eine Ausstellung zur 68er-Bewegung, die einen mit einem überdimensionalen Foto empfängt, auf dem die nackten Hinterteile der "Kommune 1" zu sehen sind. Auf Jüngere, die diese Zeit nicht mitbekommen haben, wirkt es wie ein zeitgenössisches Emblem. Wie haben Sie, aus dem Osten kommend und damals schon in der klinischen Praxis, diese Zeit erlebt?
Volkmar Sigusch: Zunächst muss man sagen, dass in diesem Foto die ganze unbewusste Dramatik der Revolte aufscheint. Die Protagonisten stehen nackt und mit erhobenen Händen an der Wand, identifizieren sich offenbar unbewusst mit den Opfern ihrer Eltern, die ihre Schuld verleugnen. Die Kinder nehmen auf diesem Bild symbolisch einen Teil der Schuld auf sich und bieten mit ihren herabhängenden männlichen Genitalien eine falsche Lösung des Problems an: männlich-sexuelle Befreiung. Das habe ich, aus dem Osten und einem antifaschistischen Elternhaus stammend, damals alles irgendwie begrüßt, aber gleichzeitig sehr merkwürdig gefunden. Vieles habe ich nicht verstanden, denn als jemand, der die DDR verlassen musste, weil er dort als Systemzerstörer galt, war die Bundessrepublik ein Rechtsstaat mit einer Presse, die nach einem fragte, wenn man im Gefängnis verschwand. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die 68er die Situation verkannten: Weder waren die Arbeiter zur Revolution bereit, noch hatte die "Bewegung" international einen gemeinsamen Kern, denn zwischen dem Anliegen der 68er und dem Kampf der Schwarzen in den US-Ghettos oder dem des Vietcong klaffte ein Abgrund.

Sie arbeiteten damals in der klinischen Medizin. Wie kamen Sie überhaupt zu einem so randständigen Fach wie die Sexualwissenschaft?
Das war ein Zufall. Ich arbeitete in Frankfurt an einer Doktorarbeit über Psychiatrie, die ich aufgrund der wissenschaftlich unerfreulichen Umstände dem Doktorvater vor die Füße warf. Im Rahmen dieser Arbeit bin ich auf den Sozialpsychiater Hans Bürger-Prinz gestoßen, der mich wissenschaftlich interessierte. Ich ging also nach Hamburg, promovierte dann aber nicht bei Bürger-Prinz, der schon zu alt war, sondern bei dem gerade als Dozent zugelassenen Psychiater Hans Giese. So landete ich in der Sexualforschung.

In Hamburg kamen Sie auch mit den aus der 68er-Bewegung stammenden Aktivisten in Kontakt. Insofern hatte die kritische Sexualforschung einen Ausgangspunkt doch in der 68er-Bewegung.
Ja, Günter Amendt, Martin Dannecker und Reimut Reiche kamen zu uns ans Institut, um von den Fronten draußen zu berichten. Reiche war Bundesvorsitzender des SDS und hatte das Buch Sexualität und Klassenkampf geschrieben. Amendt, der Autor von Sexfront, führte die Revolte der Schüler an, und Martin Dannecker war der geistige Kopf der zweiten deutschen Homosexuellenbewegung, die sich Schwulenbewegung nannte. Ich selbst bin, obwohl ich der Entwicklung damals eher distanziert gegenüberstand, beruflich eine Frucht dieser Revolte, denn ohne sie wäre ich nie so jung Medizinprofessor geworden, schon gar nicht in diesem Fach. Als ich in Frankfurt das Institut für Sexualwissenschaft aufbaute, zog ich Reiche und Dannecker nach, so dass die Revolte dort auch personell vertreten war.

Es fällt auf, dass die Sexualwissenschaft immer dann aufblüht, wenn sie mit einer starken politisch-sexuellen Liberalisierungsbewegung Hand in Hand geht, das war in der Weimarer Republik so und noch einmal in den Nach-68er-Jahren. Die Sexualwissenschaft als Disziplin scheint von politischen Konjunkturen abhängig zu sein, aber fungiert sie umgekehrt auch als Motor für Bewegungen?
Für die Weimarer Zeit kann ich das nicht wirklich beurteilen. In den sechziger und siebziger Jahren ist das Fach der gesellschaftlichen Entwicklung eher hinterhergelaufen. Es hat aber auch Weichen gestellt, indem die Sexualwissenschaft der Gesellschaft Begründungen lieferte für richtige Entwicklungen. Ein Beispiel, mit dem ich selbst zu tun hatte, war die Pille für jüngere Frauen und Mädchen. Die Pille wurde vom Papst damals generell verteufelt, und es war - heute kaum mehr vorstellbar - nicht möglich, öffentlich dagegen aufzutreten. Als ich, zusammen mit Uta Ranke-Heinemann, von Panorama gebeten wurde, dazu Stellung zu nehmen, wurde der Beitrag abgesetzt. Als ich für das Deutsche Ärzteblatt die Indikationen, die gegen die Einnahme der Pille sprachen, widerlegte, wurde der Artikel nicht gedruckt. Dennoch setzten sich unsere Argumente zehn Jahre später durch, und in dieser Hinsicht ist Wissenschaft dann auch notwendig.

Mit der Pille löste sich Sex erstmals von der Fortpflanzung. Insofern war die Wiederentdeckung der Schriften Wilhelm Reichs, der Sexualität zum Reich der Freiheit erklärte, ganz folgerichtig. Von heute aus betrachtet und dem, was Sie "Neosexualitäten" nennen, scheint aber Herbert Marcuse der Weitsichtigere gewesen zu sein.
Reichs Orgasmus-Theorie, die supernaturalistisch, rein heterosexuell und rein genital orientiert war, hat schon früh meine Kritik herausgefordert. Herbert Marcuse dagegen hat mit seinem Theorem der repressiven Entsublimierung einen Nerv getroffen, was bis heute nachschwingt. Auch in Zeiten der "Neosexualitäten" wird einerseits etwas gestattet, andererseits werden Bedürfnisse ruhiggestellt, Geheimnisse beseitigt und Menschen in das System hineingezogen. Es ist paradox: Je mehr wir von sexuellen Reizen überschwemmt werden, desto weniger erregt uns.

Als die Schriften der ersten Generation der deutschen Sexualwissenschaftler wiederentdeckt wurden, war das eine Überraschung, denn bis dahin schien die Sexualwissenschaft - Stichwort: Kinsey-Report - eine amerikanische Erfindung ...
Diesem Eindruck muss ich widersprechen. Es gab in Deutschland nach dem Krieg eine Sexualwissenschaft, die sich auf dem Boden des Existenzialismus, der Daseinsanalyse und einer Ordnungssoziologie entwickelte, also nicht Bezug nahm auf die Sexualwissenschaft der Weimarer Jahre, sich aber auch nicht an der US-amerikanischen Sexualforschung à la Kinsey orientierte. Als der Kinsey-Report dann herauskam, stellten sich deutsche Sexuologen großmäulig hin und behaupteten, das alles schon zu wissen. Die empirische Sexualforschung begann in Deutschland aber erst in den sechziger Jahren, angestoßen vor allem von Gunter Schmidt in Hamburg.

Der Erinnerungsverlust ist aber doch erklärungsbedürftig.
Die deutschen Sexualwissenschaftler der Nachkriegszeit waren zum Teil selbst belastet durch Wegschauen, Dulden und Mitmachen. Ein prominentes Beispiel ist der Erbbiologe Otmar Freiherr von Verschuer, Ziehvater des KZ-Arztes Josef Mengele, der nach dem Krieg an Hans Gieses Handbuch mitarbeiten durfte - als sei nichts geschehen. Von Bürger-Prinz ging die Legende, er habe psychisch Kranke vor den Vernichtungsaktionen der Nazis geschützt, das stimmte aber nicht. Von Hans Giese wurde erst spät bekannt, dass er NSDAP-Mitglied war. Es gab nach dem Krieg nur ganz zaghafte Annäherungen in Richtung der vertriebenen Sexualwissenschaftler, übrigens wiederum von Giese, der beispielsweise den nach Palästina emigrierten Max Marcuse einlud, in die neue Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung einzutreten. Was die USA betrifft, hatten die vertriebenen jüdischen Wissenschaftler großen Einfluss in den Fachgesellschaften, aber sie arbeiteten eher psychoanalytisch und therapeutisch, nicht empirisch wie Kinsey.

Die Sexualforschung gilt als "jüdische" Wissenschaft, weil sie fast ausschließlich von Juden vertreten wurde. Auch das könnte ein Grund sein, warum sie einfach vergessen wurde.
Ja, ganz sicher. Das war auch der Grund, warum die Nazis so erbittert gegen die Sexualwissenschaft zu Felde zogen. In Magnus Hirschfeld, dem prominentesten Vertreter des Faches in der Weimarer Republik, vereinte sich alles, was sie hassten: Er war Jude, Sozialist und homosexuell. Deshalb der frühe Angriff auf sein Berliner Institut am 6. Mai 1933. Eine neuere These ist, dass möglicherweise einige NS-Führer Angst hatten, dort könnten sich Unterlagen über sie selbst finden, weil sie früher einmal beraten oder behandelt worden waren als Perverse, Homosexuelle oder Transvestiten. Für die Zerstörung der fortschrittlichen deutschen Sexuologie sind die Nazis verantwortlich. Das Anliegen meines Buches Geschichte der Sexualwissenschaft ist es, die jüdischen und die linken Vertreter des Faches, die aus dem Land getrieben oder gar ermordet wurden, angemessen zu würdigen.

Sie setzen sich in Ihrem Buch auch noch einmal mit Magnus Hirschfeld und seiner Verstrickung in das zeitgenössische eugenische Paradigma auseinander. Halten Sie die Sexuologie für besonders anfällig für die zeitgenössischen Denkstile?
Ich glaube, das gilt für die medizinische Wissenschaft - und nur die kann ich beurteilen - ganz allgemein. Wenn heute etwa ein neuer Neuro-Diskurs - übrigens wie schon einmal um 1900 - aufkommt und alle fantasieren, sie könnten mittels Durchleuchtung des Gehirns Affekte, Ängste und Schuld verstehen und Denkprozesse erkenntnistheoretisch begreifen, dann kann sich kaum eine Disziplin dem entziehen. Ich persönlich hatte das Glück, in einer Zeit zu arbeiten, in der ich mich nicht einem mir widerstrebenden Diskurs ausliefern musste.

Haben diese somatoformen Fantasmen, wie Sie sie nennen, nicht auch etwas Entlastendes?
Ja, das galt schon für die alte Sexualforschung. Hirschfeld etwa wollte unbedingt nachweisen, dass Homosexualität angeboren ist. Als "natürliche" Wesenheit hätte man sie dann auch entkriminalisieren und den § 175 streichen können. Die falsche These von der angeborenen Homosexualität zeitigte aber ganz schreckliche Ergebnisse, denken Sie an die Experimente, bei denen homosexuellen Männern "heterosexuelle" Hoden eingepflanzt wurden, um sie umzuwandeln. Dieses körperzentrierte Wunschdenken gibt es nach wie vor, etwa wenn angeblich das "Homo-Gen" entdeckt wird. Man ist immer wieder damit befasst, "Ursachen" zu finden und nimmt nicht zur Kenntnis, dass es für ein solch komplexes Phänomen wie Homosexualität keine einzelne Ursache geben kann.

Wenn man die Geschichte der Sexualwissenschaft Revue passieren lässt, stellt man fest, dass es um gesellschaftliche Deutungshoheit geht. Was ist "normal", was "abweichend", und wann ist eine "Devianz" delinquent. Ist, bei aller Liberalität Ihr Fach an dieser Pathologisierung sexueller Erscheinungen nicht auch immer beteiligt gewesen?
Das gehört zur Paradoxie des Faches. Mein Hamburger Kollege Gunter Schmidt und ich haben zum Beispiel Ende der sechziger Jahre empirisch erforscht, wie pornografisches Material wirkt. Von links wurde uns dann der Vorwurf gemacht, wir würden den Kapitalisten zuarbeiten, weil die nun wüssten, was sie in ihren Illustrierten abbilden sollten. Später habe ich mir immer genau überlegt, wer welchen Nutzen aus unserer Arbeit ziehen könnte.

Zur Pathologisierung zwingt auch unser Gesundheitssystem, weil nur für eine Krankheit Leistungen erbracht werden.
Richtig, das hat mich beim Phänomen Transsexualismus immer sehr beschäftigt, wenn es um die Kosten der körpermedizinischen Behandlung geht.

Die Sexualwissenschaft hat viel zur Liberalisierung des Sexualstrafrechts beigetragen und auch hier das Prinzip Therapie vor Strafe durchgesetzt. Wie beurteilen Sie die Diskussion über "Wegsperren" oder - wie im Fall Barack Obama - die Forderung nach der Todesstrafe für Sexualstraftäter?
Ich sehe an vielen Fronten, wie das Rad der Liberalisierung zurückgedreht wird. Ich finde es zum Beispiel fragwürdig, wenn der Besitz einiger Bilder von nackten Mädchen auf dem Rechner - wohlgemerkt nicht die Herstellung, der Verkauf oder Kauf - eine Existenz und eine ganze Familie zerstören kann. Offenbar ist die Regierung unfähig, das Netz zu kontrollieren, Kinderpornografie kursiert ungehindert. Die Hetzjagd wird aber, das erlebe ich immer wieder als Sachverständiger, auf die eröffnet, die sich diese Bilder runterladen. Was Obama betrifft, hat es mich sehr enttäuscht, wie er jetzt dem dumpf grollenden Volksempfinden zuarbeitet. Das hat schon Gerhard Schröder gemacht mit seiner Forderung "wegschließen, und zwar für immer". Das halte ich bis heute für eine bigotte Verachtung unseres Rechtsstaates, die zu den widerwärtigsten der Nachkriegspolitik gehört.

Das Gespräch führte Ulrike Baureithel

Volkmar Sigusch ist Arzt und Sozialwissenschaftler und gilt als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft in Deutschland. Er war Direktor des Frankfurter Instituts für Sexualforschung, das nach seiner Emeritierung 2006 trotz vielfältigen öffentlichen Protests geschlossen wurde. In seinem Buch Neosexualitäten befasste sich Sigusch vor drei Jahren mit den neuen Erscheinungsformen des Sexuellen nach der so genannten sexuellen Revolution. Die gesellschaftlichen Erlösungshoffnungen, so eine seiner Thesen, die die 68er an den Sex geknüpft hatten, seien mittlerweile realistischeren Vorstellungen gewichen. Nun hat Sigusch sein Opus magnum Geschichte der Sexualwissenschaft (Campus 2008) vorgelegt, in dem er die 150-jährige Entwicklung des Faches Revue passieren lässt und die Verdienste der 1933 aus dem Land getriebenen Sexualforscher würdigt. Der reich bebilderte Band ist aber weit mehr als nur eine quellengesättigte Enzyklopädie der Disziplin und eine spannende, die sexuelle mit der politischen Frage verknüpfende Gesellschaftsgeschichte. Es geht dem Autor auch um die Standortbestimmung eines Faches, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder unter den Druck der körperzentrierten Ursachenforschung geraten ist und als kritische Wissenschaft immer mehr an akademischem Boden verliert.

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