Früher war’s mal so

BRD Jochen Schimmangs „Altes Zollhaus, Staatsgrenze West“ verweigert sich sanft dem Imperativ der Gegenwart
Ausgabe 11/2017

Gregor Korff lebt allein, als Privatier, er hat viel Zeit. Man muss diesen Ich-Erzähler des neuen Romans von Jochen Schimmang nicht aus vorausgegangenen Büchern kennen, um Ausschnitte aus Korffs Vergangenheit zu verstehen. Er gehörte als junger Mann in den 68ern einer K-Gruppe an, bevor er sich wie viele aus seiner Generation mäßigte; er wurde Politikberater in Bonn. Nach dem Verlust seines Jobs nomadisierte er ein paar Jahre – und 2007 hat er sich mit Hilfe eines kleinen Vermögens in ein Zollhaus an der deutsch-niederländischen Grenze zurückgezogen. Dort kann er Schafe besehen oder lesen – und wenn es ihm zu einsam wird, fährt er los, in irgendeine Stadt, in der es tröstliche Kinos und Kneipen gibt; Gelegenheit also, zu reden oder einmal mehr zu schweigen.

Und dann? Gerät der 60-Jährige noch mal in Schwung, erlebt er was?

Jochen Schimmang, Jahrgang 1948, ist ein listenreicher Autor, der solche Leseerwartungen auf subtile Weise unterläuft. Sein Interesse gilt dem, was an den Rändern der „großen“ Geschichte liegt. Er horcht nach Zwischentönen und zeichnet seine Helden vorsätzlich etwas unscharf; sie lassen sich nie ganz fassen, wie in seinem Roman Das Beste, was wir hatten (der Freitag 10/2009), in dem Gregor Korff der Bonner Republik nachtrauert.

In seinem neuen Roman Altes Zollhaus, Staatsgrenze West ereignet sich Folgendes: Der zurückgezogene, melancholisch-ironisch veranlagte Korff bekommt Besuch von einem 90-jährigen ehemaligen Zöllner, der ihm aus den 1950er Jahren erzählt, aus der heroischen Phase des Grenzschmuggels. Korff lernt ein junges Paar aus der nächsten Kleinstadt kennen; er lässt zwei Flüchtlingskinder auf der Durchreise bei sich übernachten, trifft einen Jugendfreund wieder, unternimmt eine Radtour mit dem Zöllner, feiert mit alten und neuen Freunden Geburtstag. Kurz: Dieser Eigenbrötler findet Freude daran, sein kleines, ereignisarmes Leben mit anderen zu teilen.

Das alles wäre harmlos, aber der Roman ist von einem Geist der Subversion durchzogen, der das Lesen zu einem intellektuellen Abenteuer macht. Korff und seine Freunde sind in einem lockeren Gespräch mit Geistesgrößen wie Arno Schmidt oder Walter Benjamin. Und sie verweigern sich den Imperativen der Gegenwart, der Hierarchisierung von Zeit. „Früher war’s so, dann so“, heißt es einmal abgrundtief lakonisch. Dabei sind die Helden keine rückwärtsgewandten, altersverbohrten Aussteiger. Ihre Wahrnehmungs- und Denkweise kennt keine schlichten Dichotomien, sie ist frei schwebend. Da erinnert sich Korff an eine Besprechung bei Kanzler Kohl; es ging um Weltpolitik. „Ich sah die ganze Zeit aus dem Fenster auf die Grünfläche und dachte plötzlich an die Wäschestangen auf der Grünfläche hinter dem Waschbetonbau, in dem meine Oma nach dem Krieg wohnte …“

Ein schöner Ton

Das Bestehen auf dem Kleinen, Nebensächlichen, auf schrägen Träumen ist hier kein Luxus, den sich nur Gutsituierte und/oder Alte leisten können; es wirkt nicht apolitisch. Korff und seine Freunde sind zwar keinesfalls auf der Höhe der Zeit, aber gerade ihr Abstand fördert einen unabhängigen, illusionslosen Blick. Als Korff die Flüchtlingskinder beherbergt, ist er so taktvoll, ihnen keine tränenselige Story abzuverlangen; er sagt sich: „Diese Kinder hatten … ihre Gründe, unterwegs zu sein, und sie waren für diese Gründe nicht selbst verantwortlich.“

Korff wird von den Kindern beraubt und beschenkt. Auch das ist keine gewichtige Geschichte, sondern ein kleiner roter Faden in einem bunten Textgewebe, das löchrig bleibt.

Die Helden behaupten, sie wollen im laufenden Getriebe nicht stören – und sie sind auf vertrackte Weise selbst ungestört. Dabei ist die kleine, wie zufällig entstandene Gesellschaft kein Idyll; es gibt Gründe, zu schreien, und einer stirbt.

Ja: Das Buch hat keine großen Ausschläge, es kommt sanftmütig daher, in verhaltenem Ton. Doch unter dieser Oberfläche lacht ein Geist des Widerspruchs, der sich nicht kalkulieren, nicht formieren und nicht dienstbar machen lässt.

Info

Altes Zollhaus, Staatsgrenze West Jochen Schimmang Edition Nautilus 2017, 192 S, 19,90 €

Die Bilder des Spezials

Peter van Agtmael, geboren 1981 in Washington D.C., ist Mitglied der berühmten Fotoagentur Magnum und mit einigen wichtigen Preisen ausgezeichnet worden. Van Agtmaels soeben erschienener Fotoband Buzzing at the Sill (Kehrer-Verlag, 192 Seiten, 39,90 Euro), aus dem die Bilder unserer Beilage stammen, ist voller oft dunkler, poetischer Arbeiten, in denen die USA wie ein unwiderruflich zerrissener Ort erscheinen. Den mysteriösen Titel verdankt Buzzing at the Sill einem Gedicht von Theodore Roethke, In a Dark Time („My soul, like some heat-maddened summer fly, keeps buzzing at the sill“). In der Auseinandersetzung des Fotokünstlers mit seinem Land sind immer auch ganz persönliche Stimmungen zu spüren: Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit angesichts einer absolut ungewissen Zukunft. Und gleich daneben kocht die Wut

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