Die Coronakrise stellt nationale Steuersysteme vor eine historische Herausforderung. Regierungen in ganz Europa schnüren milliardenschwere Rettungspakete, um die wirtschaftlichen Folgen der Krise abzuschwächen. Mit dem Erstarren des lokalen Gewerbes brechen gleichzeitig wichtige Steuereinnahmen weg. Während kleinere Dienstleister am Abgrund stehen, boomt das Geschäft der Online-Riesen. Im Gegensatz zu lokalen Unternehmen zahlen Amazon und Co. allerdings kaum Steuern. Die schnelle Einführung der europäischen Digitalsteuer könnte dies ändern und steuerpolitische Fairness wiederherstellen. Wie vergangene Krisen und Kriege bietet der Kampf gegen Covid-19 die Gelegenheit, den Steuerstaat grundlegend zu modernisieren.
Amazon – das „neue Rote Kreuz“?
Covid-19 hat das Leben in Europa schlagartig verändert. Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht von einem „Krieg gegen Corona“, Angela Merkel bezeichnet die Krise als größte Herausforderung für die gesellschaftliche Solidarität seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Regierungen überall auf der Welt setzen auf soziale Distanz, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Kitas, Schulen und Universitäten werden geschlossen, Belegschaften soweit möglich ins Home-Office geschickt. Das öffentliche Leben pausiert auf unbestimmte Zeit. Das ist nach allem, was wir wissen, der wirksamste Weg, um die exponentielle Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Mit der Absage von Veranstaltungen und der Schließung von Läden und Gastronomie werden allerdings ganze Branchen und Berufsgruppen um ihre Einnahmen gebracht. Veranstaltungstechnikerinnen gehen in Kurzarbeit, Musiker streamen umsonst aus dem Wohnzimmer, um wenigstens im Gespräch zu bleiben. Restaurants versuchen auf Lieferdienst umzustellen, müssen dabei aber Marge an Lieferando abgeben.
Tatsächlich geht der Einbruch im lokalen Gewerbe mit einem starken Umsatzplus bei den Onlinedienstleistungen einher. Familien bestellen Spiele und Bücher für die Kinderbetreuung bei Amazon, Paare schließen Netflixabos ab. Mittelständische Unternehmen und Universitäten auf der ganzen Welt abonnieren Videochatangebote, um irgendwie ihren (Lehr-) Betrieb aufrecht zu erhalten. Während der Dow Jones im letzten Monat um mehr als 12,5 Prozent an Wert verlor, lagen Amazon-Aktien 2,5 Prozent im Plus. Um der hohen Nachfrage gerecht zu werden, will der Online-Logistiker in den USA und Europa kurzfristig 100.000 neue Beschäftigte einstellen. Zudem hat das Unternehmen den potentiellen Imagenutzen seiner Rolle als Krisenversorger erkannt. Die Financial Times spekuliert bereits, dass Amazon als großer Gewinner aus der Coronakrise hervorgehen könnte, quasi als „das neue Rote Kreuz“. Aber auch andere Erbringer von Onlinedienstleistungen verzeichnen massive Nachfragezuwächse. So musste die Europäische Kommission Netflix darum bitten, die Bildauflösung seiner Serien zu reduzieren, um die Netzwerkkapazität nicht zu überfordern. Währenddessen hat Zoom, der Anbieter von Videokonferenzsoftware, seinen Börsenwert seit Jahresbeginn verdoppelt.
Die Gleichzeitigkeit des Einbruchs im lokalen Gewerbe und des Umsatzplus bei den Onlinedienstleistungen stellt die Regierungen Europas vor ein massives fiskalpolitisches Problem. Während die Gewerbesteuer wegbricht und eine Wirtschaftsbranche nach der anderen gestützt werden muss, tragen viele Online-Riesen fast nichts zur Finanzierung der europäischen Staaten und ihrer öffentlichen Gesundheitssysteme bei. Anders als die lokalen Gewerbetreibenden bieten die Amazons und Spotifys dieser Welt ihre Dienstleistungen von Luxemburg oder Irland aus an. Hier liegen die effektiven Steuersätze auf verschobene Gewinne bei unter fünf Prozent. Sie können das tun, weil das Besteuerungsrecht eines Staates an die physische Präsenz des Unternehmens auf seinem Territorium geknüpft ist. Viele Anbieter von Onlinedienstleistungen brauchen aber genau diese Präsenz nicht, um ihre Kunden zu bedienen. Die Möglichkeit, Onlinedienstleistungen in Steuerparadiesen abzurechnen, hat der Digitalwirtschaft schon vor der Coronakrise einen enormen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrer lokalen Konkurrenz verschafft. Jetzt profitieren digitale Dienstleister von der staatlichen Antwort auf die Krise, während lokale Unternehmen vor dem Aus stehen. Es ist also dringend geboten, darüber nachzudenken, wie die europäischen Staaten diejenigen, die jetzt Opfer bringen müssen, in der Krise unterstützen und die fiskalischen Folgen ihrer Krisenintervention begrenzen können.
Einsatz Olaf Scholz
Rettungsfonds für Dienstleisterinnen und Gewerbetreibende in den besonders betroffenen Branchen können Abhilfe schaffen. Die Bundesregierung und die meisten Länder haben bereits kurzfristige Zahlungen, Bürgschaften und Steuerstundungen beschlossen. Dies wird aber vermutlich nicht reichen, wenn das lokale Gewerbe weiterhin nicht öffnen kann. Einem Vorschlag der Grünen zufolge sollte die Bundesregierung Betroffenen bis zu 60 Prozent ihrer Einnahmen aus dem Vorjahr auszahlen, um ihre berufliche Existenz zu sichern. Doch wie soll das angesichts der enormen fiskalpolitischen Herausforderungen, die parallel gemeistert werden müssen, finanziert werden?
Um zusätzliche Einnahmen zu generieren, sollten die EU-Finanzminister dringend die europäische Digitalsteuer verabschieden. Das Konzept liegt bereits in der Schublade und sieht die Einführung einer digitalen Präsenz in den EU-Mitgliedstaaten vor. Wenn ein Unternehmen signifikante Umsätze oder eine hohe Anzahl von Kunden mit Onlinedienstleistungen erreicht, wäre es nach diesem Vorschlag steuerpflichtig, egal ob es seine Kundenbeziehungen formal im In- oder Ausland abwickelt. Bisher ist die Einführung auch am Widerstand des deutschen Finanzministers gescheitert. Statt eines europäischen Alleingangs strebt Olaf Scholz (SPD) eine Einigung auf globale Standards mit den USA an. Die Trump-Regierung hat im vergangenen Jahr allerdings nur Kompromissbereitschaft gezeigt, wenn gerade eine Abstimmung über die Digitalsteuer im Rat der Europäischen Union anstand. Danach wurden Zugeständnisse schnell wieder revidiert. Daher dürfen die Vorbehalte des deutschen Finanzministers den Prozess nicht länger aufhalten. Die Digitalsteuer würde dringend benötigte Einnahmen für die Stabilisierung der lokalen Wirtschaft generieren und jene zur Kasse bitten, die von staatlichen Maßnahmen gegen die Coronakrise profitieren. Die Steuer trifft Unternehmen, die die zusätzliche Belastung am ehesten verkraften können und käme jenen zu Gute, die aktuell vor dem Aus stehen. Ihre Einführung wäre somit ein Akt der kompensatorischen Fairness.
Sie wäre darüber hinaus ein erster Schritt zur Modernisierung des Steuerstaates für das 21. Jahrhundert. Die letzte große Erneuerungswelle erlebten europäische Steuersysteme vor 100 Jahren. Kriege und Wirtschaftskrisen waren die Antriebsfedern der Ausweitung genereller Steuern auf Einkommen und Erbschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon damals sollten diese Steuern diejenigen zur Kasse bitten, die während Krieg und Krise profitiert hatten, und jenen zu Gute kommen, die zu erheblichen Opfern gezwungen waren. Vor diesem Hintergrund stiegen die Spitzensteuersätze auf Einkommen im Vereinigten Königreich und den USA zeitweise auf bis zu 80 Prozent. Während sich das Wirtschaftsleben seitdem fundamental verändert hat, sind die Grundpfeiler des Steuerstaates dieselben geblieben. Das Besteuerungsrecht ist immer noch an die physische Präsenz eines Unternehmens, nicht an seine digitalen Kundenbeziehungen gebunden. Der „Krieg gegen Corona“ führt uns diese Fehlanpassung mit neuer Dringlichkeit vor Augen. Die europäischen Finanzminister müssen diese Gelegenheit nutzen, um ihre Steuerstaaten fit für die digitale Zukunft zu machen. Sollten sie an der Aufgabe scheitern, würden sie die jüngeren Generationen mit einem noch größeren Schuldenberg für ihre gegenwärtige Solidarität mit den Babyboomern bestrafen.
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