Nicht der geringste Vorzug dieses vorzüglichen Buchs ist es, aus reichhaltigsten, bisher unbekannten Quellen gearbeitet zu sein. Ein anderer, vom sprachlichen Obskurantismus einiger Gegenstände, vom „Franzosengemurmel“ (Rainald Goetz) nicht infiziert worden, sondern eher von Helmut Lethen und Michael Rutschky stilistisch sicher geleitet zu sein. Felschs Buch ist keine Theorie der theoretisierenden Jahre oder des Theoretisierens schlechthin, sondern kommt aus der Theorienachfolge, als eine Kultur-, Mentalitäts-, Prozess- und Vernetzungsgeschichte daher. Es ist vor allem Erzählung der Umstände. Und als das ist es ein Glücksfall!
Felsch restauriert das Triptychon überm Altar der Theorie: Im Mittelstück der Merve-Verlag, im linken Flügel Adorno und die Theorie-Reihe des Suhrkamp-Verlags, im rechten zunächst die Gruppe Poetik und Hermeneutik, dann Luhmann und Mannen. Das entspricht zugleich der zeitlichen Abfolge. Links startet es mit Adornos Minima Moralia, die Peter Gente, den nachmaligen Mitbegründer des Merve-Verlags, derart begeisterten, dass er alles von Adorno sammelte. So begann der Weg zu einem Verlag, der so gar nichts mit der Suhrkamp-Kultur, aber alles mit West-Berlin und seinen wechselnden Emanationen in die BRD zu tun hatte: Theorien über Theorien, deren Halbwertzeiten lang erschienen, weil ihre unansehnlichen materiellen Träger schnellst zerfielen.
Alles durcheinander
Womit wir beim Hauptstück wären. Dessen Mittelachse erscheint ein wenig nach links gerückt, in die mittleren 70er: Damals fanden gleich mehrfach Verschiebungen statt: Peter Gente verließ Merve Lowien, nach der der Verlag benannt worden war, für Heidi Paris. Das Format der Bücher wurde von DIN A5 auf DIN B6 umgestellt, die Begeisterung für die italienischen Ersatzrevolten wurden durch die Begeisterung für die „kleinen Kämpfe“ (Lyotard) der Franzosen abgelöst – und die theoretische Verbiesterung durch Verkasperung: Fungierte die Theorie zuvor wie Schnaps, indem sie aggressiv machte, auch gegen Theorie selbst, so nun eher wie Cannabis. Asketische Theoriearbeit, die sich längst von der erhofften Anleitung zur revolutionären Praxis zur selbstbezüglichen Eigenpraxis theoretisierender Sophistikationen der Organisationsfrage nebst vermittlungsfreier Übersprünge in Terrorpraxis gewandelt hatte, wurde durch Lese- und Lachenshedonismen abgelöst.
Foucaults „fou rire“, die Pipikakasprache von Deleuze/Guattari – und der Enthusiasmus der Lektüre: de Certeaus Leser als „schwärmerischer Autor“, Roland Barthes „Lust am Text“ und so fort. „Theorie verkaufte sich plötzlich wie Schallplatten.“ Theorien sind bestenfalls Realitätsverschonungen, meist aber Therapieersatz, dessen Suchtpotenzial selbst wiederum therapiert werden muss. Felsch liest sich bestens , hat aber dann doch das Problem, diese dionysische Heiterkeit mit dem verdüsterten Paralleluniversum des „deutschen Herbstes“ zu vermitteln. Stellt sich dem aber trefflich, etwa mit Gentes Besuch bei Foucault, der sich jedoch nicht für Spontis, sondern für die RAF-Terroristen interessierte, die für ihn die Frage der Macht anachronistisch auf die der Gewalt reduzierten.
Die Merves ersetzten nun das avantgardistische Vorneweg durchs noch schickere Daneben. Tunix 1978. Und dann die Ökowende: „Mit dem Siegeszug der Ökologie neigte sich die Ära der großen theoretischen Entwürfe ihrem Ende zu, und es begann die Herrschaft der kruden Empirie von Becquerel, Schilddrüsenwerten und Bodenproben.“ Obendrein die katholische Gegenaufklärung in den 80ern, das Einschleichen der Bilder in die Texte, am Ende der pictorial turn. Theorie wanderte in die Galerien ab. West-Berlin als einziger Campus eines maroden Arts Colleges.
Mit Protagonisten wie Martin Kippenberger oder Heiner Müller: von Paris, Sorbonne, zur Paris-Bar. Die Rumpelkammer der Weltgeisterei als Mensa insana. Man liest dromologisiert alles durcheinander; in die wilde Akademie von Dietmar Kamper passen alle Widersprüche, solange sie nur inkonsequent genug sind. Klaus Laermann, schon lange einer der schärfsten Elche-Kritiker, dem wir die schöne Formulierung vom „Derridada und Lacancan“ verdanken, rief nach den Dienstvorgesetzten! Und die Linken lasen nun scharf nach rechts. Nicht nur Gente und Paris lesen Ernst Jünger; vor allem liest man Carl Schmitt, zu dem ja andere schon seit Jahrzehnten pilgerten. Nicht zuletzt eingepascht von Jacob Taubes, dem Paris-Baristen, der damit nachholte, was Habermas ihm seinerzeit für Suhrkamps Theoriereihe verwehrt hatte.
Wer an der Theke übrig blieb
So wird Theoretisierergeschichte vollends zur Kneipengeschichte, als Schrecken und Fortsetzung des Theoretisierens zugleich. Eckhard Henscheid hat das ein für allemal in die Trilogie des laufenden Schwachsinns gebannt, für Frankfurt freilich. In Berlin wäre er geteert und gefedert worden. Felsch biegt über die Kneipenkulturgeschichte der Theorie in die Schlussphase des Spiels. Luhmann wird eingewechselt. Schlechterdings nicht nacherzählbar ist, wie trefflich Felsch das Duell von Habermas und Luhmann aus deren unterschiedlichen Einschätzungen von Kneipengesprächen extrapoliert. Nur einmal, das könnte eine Anekdote von Henscheid sein, erlebten die Luhmannen ihr Oberhaupt im Nachtleben, als sie nämlich Archimedes und wir, den zu seinem 60. 1987 zusammengestellten Band feierten. Höhe- und Endpunkt des langen Fests der Theorie.
After Theory. Wie Terry Eagleton, der Marxismustheoretiker, titelte, wären wir, schreibt Felsch, heutzutage bei den Herrschaften mit den gut abgesicherten Fallstudien und dem fröhlichen Erzählen der Theorien angelangt. Wer an der Theke übrig blieb, ist Privatdozent für ungefragte Politikberatung oder Sittenwächter in den Öffentlich-Rechtlichen geworden. Die Wiederkehr der Religion da, wo einmal Philosophie und dann Theorie war, die auguralen Auslegungen der Fraktionierungen des Islams wie seinerzeit die des Stalinismus, bleiben ausgeblendet wie die Stifter der drei neuen Welttheoriereligionen, Agamben, Žižek und Byung-Chul Han. Felsch trocken: „Die Zukunft der Theorie ist ungewiss.“
Info
Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960 – 1990 Philipp Felsch C.H. Beck 2015, 327 S., 24,95 €
Kommentare 4
Gelungener Kneipen- und Budenzauber als Theoriewahn im Pepita Twen Anzug mit dem Label von Miss Mabel Tatoo Tatü Spannungsbogen von "Tu Nix" zu "Tu Wat", ja wat denn, in der Hude kommuniziert, um das Übewrwintern des Ausbleibens der Revolution evozierend auf ein oder zwei, vielleicht drei Lacher gelebter Veteranen- Geschichte in der Villa Kunterbunt zu zelebrieren?
Pardon, aber mir ist diese Kritik an den frankophilen Theoriegottesdiensten damals zu verschwurbelt, weil angestrengt und häufig um die Ecke gedacht. Ich las Merve-Bücher in den 70ern einfach deshalb, weil mich der linke deutsche Alltag ("die revolutionäre Praxis") genauso extrem anödete wie die unendliche Marx- und Lenin-Exegese. Roland Barthes war da zum Beispiel eine Offenbarung und eine Erholung.
Interessant hingegen finde ich das, was - glaube ich - Michael Rutschky einmal thematisiert hat, dass nämlich Merve zwar die Pariser Intelligenzija feierte wo und wie es ging, aber dabei einen ihrer wichtigsten Verteter unbeachtet ließ: Pierre Bourdieu.
Danke für die Formulierung Und die Linken lasen nun scharf nach rechts. Sie haben sich dabei aus der Kurve gelesen.
Na ja: was heißt hier "nach rechts"?
Meine Erfahrung war eher die, dass man sich mit den französischen Theoretikern - insbesondere Foucault - vom dogmatischen bzw. aktionistischen Marxismus lösen konnte ohne aufzuhören radikal zu sein.
Es gab daher auch einen großen Wunsch nach Ästhetik und Kunst in Sprache und Theorie. Darin lag gewiss, das gebe ich zu, eine Nähe zum elitären Habitus, also auch ein Interesse an Ernst Jünger, Carl Schmitt, Niklas Luhmann.
Man wollte halt ohne Sachzwänge denken.