Für immer Bastelkind

Kunst Marcel Odenbachs Werk dreht sich seit 45 Jahren um alle Facetten der deutschen Geschichte. Jetzt lässt er sich in gleich zwei Ausstellungen über die Schulter schauen
Ausgabe 45/2021

Die trügerischen Collagen von Marcel Odenbach wirken aus der Ferne verführerisch einladend. Ihre Abgründe offenbaren sie erst, wenn man der Einladung folgt und immer näher an die großformatigen Werke herantritt. Die diesjährige Arbeit Meine Freimarken etwa, die gerade in einer Retrospektive im Düsseldorfer K21 zu sehen ist, zeigt eine Seite aus einem Briefmarkenalbum, das Odenbach als Kind während der 1950er und 60er Jahre geführt hat. Sie enthält Postwertzeichen aus dem Kongo, in den ein Teil seiner Familie mütterlicherseits ausgewandert war. Die Marken selbst sind, jede für sich, prächtig und bunt, zeigen wie eine Wunderkammer Flora und Fauna des Landes, bilden Masken oder Flaggen ab und fordern in jedem detailfreudigen Blütenblatt, jeder Vogelfeder und jeder Markierung des Datumsstempels den Status Dutzender eigenständiger Bilder innerhalb der Gesamtkomposition für sich ein. Andere Motive wiederum zeigen aufgereihte Politiker der belgischen Kolonialherren oder feiern dann ab 1960 euphorisch den Weg in die Unabhängigkeit.

Um von hier aus zum fertigen, fast raumhohen Bild zu gelangen, hat Odenbach das Originalalbum zunächst abfotografiert, vergrößert und nachgezeichnet. Der zweite, wesentlich komplexere Strang seiner Vorgehensweise besteht darin, dass er seit Jahrzehnten aus Zeitschriften oder Büchern herausgetrennte Bilder montiert und daraus sogenannte Schnittvorlagen im DIN-A3-Format anfertigt – die erste aus dem Jahr 1990 versammelt Motive zur Geschichte Namibias, die zweite ist ein Sammelsurium von Politikerköpfen – und so weiter. 117 solcher thematischen Blätter gibt es inzwischen, für jede neue Collage entstehen weitere passende Assemblagen. Diese Muster, kopiert und eingefärbt, werden dann – sinnfälligerweise im Schneidersitz auf dem Fußboden – mit dem Skalpell in detailgenaue Formen ausgeschnitten und wie winzige Puzzleteile so präzise geklebt, dass die Schnittkanten optisch fast verschwinden. Steht man dann als Betrachter unmittelbar vor dem Bild, scheinen durch die farbenfrohen Oberflächen die kopierten Motive hindurch, die den Blick auf eine tieferliegende Bedeutungsebene hin öffnen und um brisante Themen wie die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents, Unterdrückung und Sklaverei und koloniale Gräueltaten kreisen. Die Collage funktioniert wie ein Vexierbild, Makro- und Mikroebene verbinden sich zu einem Kommentar über die gewaltvolle Geschichte dieses Landes, über Folklore und Klischees, die bei uns darüber kursieren, sowie über koloniale und imperialistische Bestrebungen weltweit, damals wie heute.

Hitlers idyllischer Alpenblick

Dabei gehört es zu Odenbachs semiotischen Grundannahmen, dass hinter der Oberfläche nie eine verborgene „Realität“, sondern immer nur eine neue Zeichenebene aufscheint, die kopierte Kopie einer Kopie, die ein Gewebe endloser Referenzen aufspannt. Ein anderes Beispiel liefert die Collage Familienfeier von 2011/12, die ein scheinbar idyllisches Gebirgspanorama präsentiert, jedoch den Blick von Hitlers Feriensitz auf dem Obersalzberg zeigt. Bei näherer Betrachtung werden gedruckte und handgeschriebene Worte, Zeichnungen und Fotos aus der Zeit des Nationalsozialismus sichtbar. Die Texte stammen teilweise aus Briefen von Odenbachs Großvater aus dem besetzten Polen und aus der Korrespondenz seines Großonkels mit der Gestapo. Das objektive historische Element ist bei Odenbach immer auch mit dem persönlich-autobiografischen verwoben, das die subjektive Relevanz des behandelten öffentlichen Ereignisses, Gegenstands oder Ortes verbürgt.

Odenbachs vielfältiges Werk begann mit Zeichnungen und Performances, bekannt wurde er dann als Videokünstler der ersten Stunde. Seit 45 Jahren setzt er sich thematisch mit politischem Widerstand und Erinnerungskultur, mit der Verdrängung der NS-Zeit, mit Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus, mit der RAF sowie mit Geschlechter- und Identitätsfragen auseinander. Am 16. November erhält er nun den renommierten Wolfgang-Hahn-Preis, der jährlich von der Gesellschaft für Moderne Kunst am Kölner Museum Ludwig vergeben wird. Die Auszeichnung ehrt Künstler*innen, die zwar international anerkannt, „in Deutschland aber noch nicht so bekannt sind, wie sie es verdienen“. Geht dieser Preis wie jetzt an einen einheimischen, gar in Köln geborenen und arbeitenden Künstler, steckt darin zweifellos auch das Bestreben, dem Propheten im eigenen Land Gehör zu verschaffen. Die Leidenschaft des namensgebenden Kölner Kunstsammlers Wolfgang Hahn (1924 – 1987) galt den europäischen und amerikanischen Avantgarden – wie Marcel Odenbach seit seinen Anfängen richtete auch er den Blick immer aufs Visionäre.

Im Rahmen der Preisverleihung erwirbt das Kölner Museum Ludwig nun sämtliche Schnittvorlagen Odenbachs und stellt sie im Zuge dessen auch gleich aus. Als Gedankenskizzen haben sie für den Künstler, wie er im Gespräch mit dem Freitag erklärt, eine ähnliche Funktion wie Tagebücher: Sie sind persönliches Archiv, fungieren als Chronik deutscher wie globaler Geschichtsschreibung und legen, da sie sonst katalogisch in Aktenordnern lagern und nie dazu gedacht waren, gezeigt zu werden, Odenbachs künstlerischen Schaffensprozess offen: „Ich lasse mir da über die Schulter schauen“, wie er es formuliert. Da die Vorlagen seine Arbeitsgrundlage darstellen, wandern sie nach dem Ende der Ausstellung dann als Dauerleihgaben wieder zurück in sein Atelier.

„Ich war immer ein großes Bastelkind“, sagt Marcel Odenbach von sich, und ergänzt, er sei „mit der Uhuflasche aufgewachsen.“ Zwar beginnt er früh zu zeichnen, doch den krakeligen Darstellungen aus Bleistift und je einer Buntstiftfarbe wie in dem kleinen Zyklus Dinge, die zu mir gehören, so wie ich zu den Dingen gehöre von 1975 ist die Verweigerung bereits eingeschrieben: Der silberne Ohrring heißt eine der fahrigen Zeichnungen – „der Versuch, mein Geschlecht zu verschleiern“, steht darunter auf das A4-Blatt geschrieben; der Wappenring – „das Mißglücken aus gesellschaftlichen Normen zu entgleisen“; der schottische Wollschal – „der Versuch, mich vor der Schlinge zu retten“. In frühen Performances wie Ich glaube, ich bin mir selbst verloren gegangen tastet er sich 1976 auf der Suche nach dem verlorenen Selbst mit verbundenen Augen taumelnd durch den Raum, bevor er anschließend an einem Tisch ein Porträt von sich zeichnet, ein andermal behauptet er sich wackelig auf einem Bein stehend gegen unsichere Identität und Einflussangst. Raumskizzen und Ablaufpläne, die – Odenbachs Architekturstudium schreibt sich hier ein – mit Tuschestift auf Transparentpapier gezeichnet sind, gehören als Vorstadien zu den Performances und Videoarbeiten immer dazu und beanspruchen wie auch jetzt das Zwischenstadium der Schnittvorlagen inzwischen eigenständigen Werkcharakter. In Der Rhythmus meiner Nervosität – sich selbst das antun, was man anderen antut von 1977 zeigt eine schematische Zeichnung den Blick von oben in einen kleinen Raum, in den vier zentral stehende Projektoren wandfüllende Filme werfen und das Individuum damit immersiv überfluten. Schon hier beginnt Odenbach, „die ideale visuelle Umsetzung in vorhandenen Abbildungen zu suchen“, wie er sagt: auszuschneiden, zu montieren, aufzukleben.

Kunst, die nicht von Dauer ist

Der gemeinsame Nenner zwischen Film und Collage ist der Schnitt – der Akt des Schneidens und die Entscheidung, die er in diesem Moment trifft. Wer leidet, der schneidet heißt eine Zweikanal-Videoinstallation von 2019 über den Künstler John Heartfield, der als Erfinder der politischen Fotomontage gilt. Aufnahmen aus der Weimarer Republik stehen gegen Reden von Hitler und Göring, dazwischen zeigen Archivaufnahmen Heartfield beim Arbeiten oder beim Schwimmen. Dem Zuschauer wird abverlangt, das Montierte und die daraus entstehenden Affekte selbst aktiv mit Sinn zu füllen. Als Videokünstler will Odenbach der bürgerlichen Malerei, zu der er dann auch seine Zeichnungen zählte, eine Kunst entgegensetzen, die nicht von Dauer ist, deren Bänder zerfallen oder die in zeitlichen Prozessen aufgeht.

Bild und Schrift, Ton und Musik gehören in die Enzyklopädie gleichwertiger Zeichen und Referenzen, die Odenbachs Werk ausmacht. Der Künstler selbst hält sich diskret im Hintergrund und tritt lieber hinter sein Material zurück. Die Collage Selbstportrait von 2017 zeigt so auch nur die Rückseite eines Plattenstapels aus seiner privaten Vinylsammlung, abgeschabt, mitgenommen, zerknickt, und doch ist jeder Buchstabe und jede Abnutzung in filigraner Kleinarbeit erkennbar. Steve Reich, Philip Glass und Miles Davis sind vertreten, aber auch Public Enemy oder Nina Hagen. Der unprätentiöse Titel der Düsseldorfer Ausstellung, So oder so, bezieht sich auf die letzte Strophe eines Gedichts von Thomas Brasch aus dem Jahr 1971, Dornröschen und Schweinefleisch: „Wer schreibt der bleibt / Hier oder weg oder wo / Wer schreibt der treibt / So oder so“, heißt es darin. Die poetische Tragweite und intertextuelle Vielschichtigkeit der Arbeiten von Marcel Odenbach bleiben in ihrer kritischen und offenen Verweisstruktur unerschöpflich.

Marcel Odenbach. So oder So K21, Düsseldorf, bis 9. Januar 2022

Marcel Odenbach. Wolfgang-Hahn-Preis 2021 Museum Ludwig, Köln, bis 20. Februar 2022

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