Für wen singt der Boss?

Kino Eher lieblich erzählt „Blinded by the Light“ vom Leben in der Thatcher-Ära
Ausgabe 34/2019

Träume, die beflügeln, sollten wahr werden. Aber nur wenn sie die richtigen sind – und die Richtigen sie haben. So wie der junge Javed (Viveik Kalra) aus Luton bei London, wo alles zu finden ist, was eine britische Kleinstadt Ende der achtziger Jahre eher nicht braucht: hohe Arbeitslosigkeit, grassierende Armut, aufmarschierende Neonazis. Die kleinen Faschisten pinkeln auch schon mal den pakistanischen Zuwanderern durch den Türschlitz, die haben deshalb im Vorzimmer vorsorglich schon eine Plastikfolie ausgelegt.

Auch für Javeds aus Pakistan stammenden Vater, stolzes Familienoberhaupt und stoischer Fabrikarbeiter, stehen die Zeichen in der Thatcher-Ära nicht gut. Das Geld ist knapp, die Kinder bevorzugen den englischen Lebensstil und vor allem der einzige Sohn hat mit seinem Migrationshintergrund wenig am Hut. Javed hört lieber westliche Popmusik, will endlich knutschen und – noch schlimmer – Schriftsteller werden. Das geht im wirklichen Leben selten gut, funktioniert dafür im Kino umso besser.

Blinded by the Light ist ein sogenanntes Feelgood-Movie. Das heißt, dass man sich, wenn man diesen Film gesehen hat, danach besser fühlen sollte. Aber warum eigentlich? Im konkreten Fall wohl deshalb, weil hier ein Sympathieträger die Schattenseiten der achtziger Jahre noch einmal durchlebt und es dennoch schafft, seinem Schattendasein zu entkommen. Weil man, falls man selbst schon ein wenig älter ist, Erinnerungen an die eigene Jugend abrufen kann, an hässliche Pullover und Frisuren, an mittelmäßige Popmusik und das ungute Gefühl, sich als Außenseiter gefühlt zu haben. Doch eigentlich war das gar nicht so schlimm, behauptet Blinded by the Light, der Film entschärft Sozialkritik mit verklärender Nostalgie – und blendet Hintergründe und Ursachen deshalb vorsorglich aus.

Rette mich, Springsteen!

Weil Javeds Probleme – „Make loads of money, kiss a girl, get out of this dump“ – nicht für eine Spielfilmhandlung reichen, hat sich Regisseurin und Autorin Gurinder Chadha eine Story ausgedacht, deren Rezept jenem ihrer Erfolgskomödie Kick it like Beckham, in der sich ein indischstämmiges Mädchen gegen den Willen der Eltern im Frauenfußball durchsetzt, nicht unähnlich ist: Javed bekommt von seinem Sikh-Buddy Roops (Aaron Phagura) zwei Musikkassetten geschenkt und erkennt daraufhin Bruce Springsteen als seinen persönlichen Messias. Denn obwohl am College schon wieder längst out, trifft „The Boss“ als singender Working-Class-Hero für Javed perfekt den richtigen Ton für dessen eigene Lebenslage.

Am Höhepunkt ihres Streits will der Vater vom Sohn über das neue Idol wissen: „Do you think this man sings for people like us?“ Natürlich weiß Javed, dass Springsteen für Gott und die Welt, nicht aber für eine muslimische Arbeiterfamilie in England singt. Doch was zählt ist das, was sich zwischen den eigenen Ohren abspielt: „But he talks to me.“

Bald spricht der auf ein Stipendium in den USA hoffende Jungautor hauptsächlich in Form von Zitaten aus Springsteen-Songs, und je nach Stimmungslage schieben sich entsprechende Lyrics leitmotivisch über die Leinwand. Wenn Javed bei guter Laune und verliebt ist, kann Blinded by the Light auch ins Musical kippen und Luton mitsamt Trödelmarkt zur Tanzbühne werden, inklusive Ständchen mit Thunder Road für die Liebste.

Man kann Gurinder Chadha nicht nachsagen, mit diesem Film, genauso wenig wie bei Kick it like Beckham, etwas falsch gemacht zu haben. Als Wohlfühlkino taugt diese in bunte, satte Farben getauchte Coming-of-Age-Geschichte allemal, dem Freiheitsdrang ihres Helden muss Chadha jedoch selbstverständlich klare Grenzen auferlegen. Und die liegen für Javed dort, wo sein Eigeninteresse zum Eigennutz werden könnte. Bei letzterem sei die Familie vor, damit der Walkman, Symbol für Intensität und Isolation, nicht für immer der wichtigste Begleiter im Leben bleibt. Was hingegen bleibt, ist die Frage: Konzertkarten oder Hochzeit?

Info

Blinded by the Light Gurinder Chadha Großbritannien 2019; 117 Minute

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