Führer in das Labyrinth

Ohne Titel Anmerkungen zu Jannis Kounellis anlässlich der Ausstellung »Forme per il David« in der Galleria dell´Accademia Florenz

Vor 500 Jahren präsentierte Michelangelo den Bürgern von Florenz seinen »David«. In dreijähriger Arbeit hatte er ihn aus einem schon bearbeiteten Marmorblock herausgeholt. 40 Jahre zuvor war der Block von den Operai del Duomo bestellt worden, um aus ihm einen fünf Meter hohen David für einen Strebepfeiler des Domes zu gewinnen. Der beauftragte Künstler scheiterte. 1501 wurde ein neuer Versuch unternommen, einen Künstler zu finden. Michelangelo befreite aus dem Stein die Gestalt, für die er bestimmt war. »Ein Wunder«, nannte es Giorgio Vasari, »einen, der bereits zu den Toten gezählt wurde, zum Leben aufzuerwecken.« Der sich zeigende »David«, vier Meter hoch, verlangte seinen eigenen Raum. Die Signorie bestellte die führenden Künstler von Florenz, um über seinen Standort zu entscheiden. Der Form nach ein demokratischer Akt. Die Entscheidung war aber schon gefallen. Piero Soderini, der Gonfaloniere von Florenz, und Michelangelo waren sich einig: links vor dem Eingang zum Rathaus, dem Palazzo Vecchio.

Der »David« wurde aufgestellt als Symbol der Republik, die ihre Freiheit gegen die Tyrannen verteidigt. Gezeigt ist der Moment vor dem entscheidenden Schlag. Die Augen des David taxieren den Gegner. Seine Augen gehen auf Cesare Borgia, der im Herbst 1502 Florenz bedrohte. Zu ihm hatte Soderini als Unterhändler Nicolò Machiavelli geschickt. Der studierte die Raubtierintelligenz des Borgia, hingerissen von dieser Kraft zu denken und zu handeln. Er fand es richtig, ihn »all denen zur Nachahmung zu empfehlen, die durch Glück und mit fremder Waffenhilfe zur Herrschaft emporgestiegen sind«. Dieser Kraft gilt es gewachsen zu sein.

Die Galleria dell´Accademia lud jetzt fünf Künstler zu der Ausstellung Forme per il David ein. Aber dem »David« kann man nicht antworten. Er weist alles von sich. Mit ihm hatte Michelangelo versucht, die reiche Schar der Künstler in Florenz, von der wir leben, Leonardo da Vinci als primus inter pares, in die Schranken zu weisen. Jetzt sollen sich die Künstler wieder zum »David« äußern. Für den es nur ein Gegenüber gibt, und der heißt Goliath.

Im Sommer 2002 hatte Kounellis in der Galleria nazionale d´Arte moderna in Rom seine Ausstellung Atto unico gezeigt. In die Eingangshalle und in die anschließende quergelagerte Halle baute er ein Labyrinth. Die Wände aus zwei Meter hohen, 30 Zentimeter breiten Stahlwänden, gefüllt mit Steinkohle. Das immer von ihm verwendete Maß: eine Platte zwei Meter hoch, 90 Zentimeter breit, die Kohle oben zu sehen, in ihrer Aufschüttung jeweils zwei Platten zusammenfassend. Das Maß eines Doppelbettes. Ein Eingang. Die langen Gänge setzten sich jeweils im rechten Winkel fort und gaben in der Wendung den Blick frei auf gesehene und noch nicht gesehene Elemente seiner Bildsprache. Ein Kohlehaufen, bemessen auf weiß begrenzter Fläche. Kaffee auf Apothekerwaagen gehäuft. In einer Nische ein Bett, eine Mönchszelle. Das Zentrum des Labyrinthes aber ein Chor: ein Kohlehaufen umstellt von zwölf gefüllten Jutesäcken, ein Gral. Ein Kreis der Freunde, die, jeder auf seine Weise, in der Welt operieren, um an einem gemeinsamen Werk zu arbeiten. Ein Raum der Reflexion, der Verarbeitung und der Vorbereitung.

»Ich habe immer die Höhle des Theaters gesucht«, erklärte Kounellis, der sich selbst als Maler versteht, vor einem Jahr. »Ich suche sie, auch wenn ich Malerei mache. Die Malerei hat ihre theatrale Dimension. Eine Einzelausstellung, zum Beispiel, hat ihr kurzes Leben, ist ein ›atto unico‹, ein Einakter, in dem Sinn, dass sie ihre Dramaturgie hat, und in dem Sinn, dass sie etwas einzigartiges ist, unwiederholbar wie eine Theateraufführung. Und sie hat auch die Moralität einer Theaterarbeit. In der Tat, wenn man etwas ausstellt, ich weiß nicht, Guernica, dann ist das eine Moralität, die man ausstellt. Heute sucht man den Künstler von seiner Position eines Dramaturgen zu trennen. Das ist für mich nicht zu akzeptieren. Wenn keine Idee mehr vorhanden ist, eine dramatische Idee, die der Künstler verwirklichen kann, dann wird alles Deko. In der Preisgabe liegt der Anfang eines mörderischen Snobismus.«

Die Kunst ist Hinwendung, Hingabe: »attaccamento« im Unterschied zu »attacco«, Angriff. Michelangelos »David« war ein Gefangener im Anblick von Cesare Borgia. Papst Julius II. erkannte Michelangelo in seinem Anspruch: Der konnte darstellen, was er selbst schaffen wollte. Der erste Gedanke beider war, ein Grabmal zu bauen, um ihn, Julius II., zu zeigen, seinen Kosmos: zwölf Meter breit, acht Meter hoch, acht Meter tief der Bau, versehen mit 40 Statuen. Ein Leben Arbeit, um es zu realisieren. Michelangelo arbeitete jetzt für einen Papst. Er fühlte sich ihm verwandt. Sklaven sollten auf dem Sockelgesims das Grabmahl umstellen. Zwei Figuren hatte Michelangelo nach dem Tod von Julius II. ausgeführt. Ein paar Jahre später begann er mit vier weiteren Sklaven und ließ sie, abgerufen zu anderen Aufträgen, im Stein verharren. Gefangen. Im Stein belassen, sind sie befreit: sie bleiben sie bei sich, in ihrer Not, ihrer Suche, werden nicht Repräsentanten ihrer selbst, zeugen von einem Werden, einer Energie. Sie stehen jetzt in der Galleria dell´Accademia in einer Flucht, ausgerichtet auf den »David«. Zwischen ihnen, ebenso unvollendet, der Apostel »Matthäus«.

Diesen Ort wählte Kounellis. Zwischen zwei Sklaven an den Seiten und den »Matthäus« in der Mitte stellte er links einen Gitterkäfig, rechts ein Labyrinth. Hinter dem Gitterkäfig ein geschlossener Block aus Stahlwänden, gefüllt mit Kohle, – davor eine quadratische Platte, daraufgeheftet drei weiße Papierfahnen, 1,50 mal 1,50 Meter. Auf die Papierfläche schüttete er schwarze Farbe, die zu einem runden See auslief. Dann hängte er dieses schwarze, noch abtropfende Energiefeld an die Stahlwand und montierte einen T-Träger davor. Festverschraubt. Versperrt die Energie. Das Labyrinth rechts ist aus den gleichen Stahlwänden gebaut. Sein Eingang findet sich auf der rechten Seite. Am Ende eines schmalen Ganges liegt in einem Winkel aufgeschüttet ein Kohlehaufen. Eine Ration. »Ich habe ein Bild geschaffen, fern von der Idee eines Götzendienstes vor David. Eisen und Kohle sind die Materialien, die die industrielle Revolution, die Anfänge der gegenwärtigen Gesellschaft wachrufen.« Daneben die Sklaven im Stein. In den Schächten. Oder ist es die Kunst, die in ihrer Freiheit den unfreien Zustand unserer Gesellschaft zeigt. »Meine Arbeiten sind ohne Titel, mich interessiert die Präsentation des Materials, nicht die Interpretation.«

Kounellis nimmt die Arbeit von Michelangelo dort auf, wo der sie selbst in der eigenen Zwiegespaltenheit belässt. Als ein Führer in das Labyrinth, in die eigenen Innenräume, wo die Erfahrungen sich austragen, sich dem Wissen von der Einheit der Gegensätze fügen. Wo die durchlebten Energien übersetzt und neu gewonnen werden, um den täglichen Kampf zu bestehen: nicht als ein David, nicht in ausgeliehenen Identifikationsmustern, die nur Fallen sind, sondern in der Hinwendung an das, was danach drängt zu leben, wieder aufgenommen und durchlebt zu werden, in dem Zuhören, was uns die, die uns vorausgegangen sind, zu sagen haben. Kounellis durchlebt das »territorio« Michelangelo, das durch diesen Prozess neues Leben gewinnt.

Forme per il David. Baselitz, Fabro, Kounellis, Morris, Struth. Galleria dell´Accdemia, Florenz, noch bis zum 4. September 2005, Katalog 62 EUR


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