Am 23. Dezember beschließe ich, das Fest doch nicht zu ignorieren. Ich fahre von der Lebestadt Tel Aviv mit ihrem für Nordeuropäer auch zu dieser Jahreszeit einladenden Strand nach Jerusalem. Ich fahre, wie es meine Gewohnheit ist, von der Arlosorov-Station in Tel Aviv ab, die nicht überdacht und nicht ummauert ist und deshalb ohne Taschenkontrollen auskommt. Im Zentralen Busbahnhof hingegen sind seit Monaten die meisten Ausgänge gesperrt, aus Sicherheitsgründen. Der Mann neben mir im Bus sieht nervös und verschwitzt aus, mit europäischen Augen betrachtet, könnte er gut ein Araber sein. Ich bekomme Angst, bin aber wohl die Einzige, lasse es wieder und komme nach 30 Minuten heil in Jerusalem an.
Stiller Franzose
Abends wieder mit dem Bus in die Sta
r mit dem Bus in die Stadt - mein Freund Avner wohnt an der Linie 18, die hat die beste Bombenrate, aber es passiert zumeist vormittags. Zum Glück kommt ein Bus der Linie 20, ein Windstoß wirbelt alte Fahrscheine und Papierreste auf, da fliegen sie, und da fährt der Bus schon hinterher. Ich habe das Gefühl, beschließen zu müssen: der Abend für ein Attentat ist das nicht. In der Diwan-Bar steht an der Theke ein 28-jähriger UN-Mitarbeiter neben uns, der aussieht wie 40 und erzählt, er sei der Senior Advisor für den gesamten Nahen Osten, habe schon im Libanon und in Syrien gearbeitet, nun also hier. Er zeigt uns die Narbe einer Schussverletzung aus Beirut. Es sei dazu gekommen, weil er gar nicht erst geschossen habe. Der Andere hätte schließlich vom Alter her sein Vater sein können. Er erzählt etwas von Ehre und Würde des Soldaten und dann über Familienverhältnisse, die vermuten lassen, dass es weniger der Hang zum Abenteuer war als der Wunsch, dem Elternhaus zu entfliehen, der ihn hierher verschlagen hat: Sohn reicher Ärzte aus Paris, Enkel eines reichen Notars aus Paris. Schon mit sechzehneinhalb will er zur französischen Armee gegangen sein. Was ist Wahrheit, was Tarnung? Eigentlich darf er nicht reden über seinen Job, deshalb sei er so einsam - ein einsamer Soldat in Jerusalem.Ich versuche, etwas für die palästinensische Ökonomie zu tun und trinke Taipee, das palästinensische Bier. Es schmeckt zum Gruseln. Hinten an der Bar sitzen noch eine Norwegerin und ein Brite, ebenfalls UN-Personal, die Vereinten Nationen sind nun einmal der größte internationale Arbeitgeber in der Region. Nach einer guten Stunde verlässt uns der stille Franzose. Und wir beschließen, ins Stardust zu gehen, das einzige Lokal Jerusalems, das noch immer auf Türkontrollen verzichtet, aus welchen Gründen auch immer. Dort treffen wir drei junge amerikanische Juden auf Weihnachtsurlaub im Heiligen Land. Einer fängt mit Avner die "Bist-du-Jude-Debatte" an. Zu meiner Verwunderung lautet Avners Antwort - "halb". Was nach keinem der in Frage kommenden Gesetze, ob religiös oder weltlich, stimmt: Avner ist Jude. Darum lässt der Amerikaner die Antwort auch nicht gelten, als er erfährt, dass Anvers Mutter Jüdin ist. "Also bist du Jude. Warst du in der Armee?" "Ja." "Dann weißt du ja, dass sie uns alle umbringen wollen." "Was ich in der Armee gesehen habe, waren israelische Soldaten, die Palästinenser misshandelt haben." So gesehen unterscheidet sich mein Freund Avner von einem israelischen Durchschnittsjungen. "Du hast keine Ahnung." "Du auch nicht."Bevor der Dialog zu verbissen wird, verabschieden wir uns.Zum Glück fährt kein Bus mehr, es bleibt nur das Taxi, die Straßen in Jerusalem werden immer schlechter ...Fest der LiebeNächster Morgen: ich verschlafe die Demonstration in Bethlehem, nachmittags wandere ich durch die Altstadt von Jerusalem. Alles ist noch verlassener als vor einem Jahr, es kommt mir so vor, als wollten die Ladenbesitzer nicht einmal mehr versuchen, mich zu irgendeinem Kauf zu überreden. Es zieht mich zur Grabeskirche. Lange halte ich es allerdings nie aus. Hier ist die Inquisition noch spürbar. Verschiedene Fraktionen streiten sich schon seit langem um die Vorherrschaft über das Gotteshaus, weswegen seit Jahrhunderten eine arabische Familie von nebenan den Schlüssel hat. Eine typische Aus-dem-Heiligen-Land-Geschichte.Nachmittags Treffen mit Chris, um nach Bet Sahor zu fahren, einem Nachbarort von Bethlehem. Das ist autonomes Gebiet, für Israelis verboten. Chris hat einen amerikanischen Pass, aber natürlich kein Visum, was am Checkpoint zum Problem werden kann. Ich hoffe, nicht allein nach Bethlehem fahren zu müssen. Für Ausländer sind die Autonomie-Gebiete ein sicherer Ort, aber der allgemeinen Angst kann man sich nicht entziehen. Wir kommen zum Checkpoint und spielen den Part: unbedarft-weltfremde Touristinnen unterwegs. Die Frauen-Nummer zieht immer, gesteht Chris, eine gestandene Feministin. Und die Soldaten lassen uns mit einem gelassenen Welcome, Merry Christmas ungehindert passieren. Noch nie bin ich von Israelis mit einem Welcome in Palästina begrüßt worden. Das Heilige Fest verwandelt die Menschen. Auf der anderen Seite warten Regen, Taxis und Weihnachtsmusik.An den Checkpoints gibt es übrigens - streng getrennt - die Passage für Palästinenser und die für VIPs, womit alle anderen bis auf die Palästinenser gemeint sind.Im Handumdrehen ist es zwölf, und ich will in die Messe nach Bethlehem, großer Auflauf vor der Geburtskirche, drinnen tropft es überall durchs Dach, Farbe blättert von den Wänden, die Kronleuchter sind zur Feier des Tages (oder wegen des Regens) in gelbe Plastikhüllen gepackt. Das ist nun einer der heiligsten Orte der Christenheit - ist die Kirche pleite? Nebenan die katholische Messe, der Vorhof gleicht eher eine Cocktailparty, es fehlen nur die Gläser. Menschen aus aller Welt, nur nicht aus Bethlehem, Bet Jalla und Bet Sahor, den umliegenden Dörfern. Mir wird gesagt, die einheimischen Christen würden in ihren eigenen kleinen Kirchen feiern. Die Ausländer sind unter sich, deshalb wird wohl - als Esperanto-Ersatz und um nicht immer Nordamerikaner und Briten zu bevorzugen - auf Lateinisch gesungen. Die Predigt folgt in Französisch und Arabisch. Die Kirchenglocken läuten ununterbrochen. Es ist nach zwei Uhr in der Nacht! Draußen warten die Taxifahrer auf Beute, so müssen wir wenigstens nicht suchen, steigen aber am Markt wieder aus. Wir kennen den Weg nur zu Fuß. Es regnet in Strömen, und der Taxifahrer sieht uns völlig verständnislos an, als ich ihm erkläre, dass wir unseren Weg finden würden. Er wünscht uns trotzdem ein Frohes Fest und fährt von dannen.Für jeden eine Am nächsten Tag bin ich wieder bei Avner in Jerusalem. Er wäre gern mitgekommen nach Bethlehem, hat aber nur einen israelischen Pass. Wie gesagt, für Israelis sind die autonomen Gebiete verboten - von beiden Regierungen, der in Jerusalem und der in Ramallah. Wir sehen uns die Nachrichten an: Entgegen der Vermutung meiner Freundin Chris, die israelische Armee werde über die Weihnachtstage Bethlehem fern bleiben, ist sie längst wieder in die Stadt eingerückt - und längst herrscht wieder Ausgangssperre.Avners Vater stößt zu uns, er hat fünf Pakete im Arm, lacht und sagt: "Für jeden eine!" Es sind die neuen Gasmasken. Zwar haben noch alle ihre Bestände vom letzten Golf-Krieg gegen den Irak - aber der ist immerhin fast zwölf Jahre her. Die neuen Masken müssen gecheckt werden, und sie müssen bereit liegen, back to reality! Normalität im Heiligen Land.Die Autorin arbeitet für das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung, zur Zeit ist sie in einer Anwaltskanzlei bei Tel Aviv tätig.
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