Ist das nicht ein Witz?" Oleg Gozuljak schlägt seinen Pass auf. Er zeigt ihn in die Runde. "Hier, auf Englisch: ÂAlien of the Republik LatviaÂ. Ein Fremder, nicht aus dieser Welt! Und wo ist dieser Fremde geboren? Hier, in Riga." - Zusammen mit Garold Astachov, dem Vorsitzenden der Russischen Gemeinde in Lettland, sinniert Gozuljak über die Lage seiner Landsleute. In einem Keller mit vergitterten Fenstern hat die Gemeinde ihren Sitz. Das Stammhaus in Riga - eine Residenz Peters des Großen - musste sie vor zwei Jahren verlassen. Die Miete war unbezahlbar.
"Wir unterstehen der Rechtsprechung Lettlands, sind aber nicht seine Bürger", klagt Gozuljak. Wählen darf er nicht. Auch braucht er - anders als die "richtigen" lettischen Bürger - ein Visum, um in Länder der EU fahren zu können. Andererseits gibt es für junge Russen keine Wehrpflicht - ein Grund für sie, die lettische Staatsbürgerschaft nicht zu beantragen
Die Hymne auswendig können und das Gelübde unterschreiben
Gozuljaks Mutter ist Jüdin, der Vater Ukrainer. "Ich fühle mich aber als Russe - und meine Sprache ist Russisch." Solche wie ihn gibt es in Lettland nahezu 700.000. Als das kleine Land im Baltikum vor einem Jahrzehnt seine Unabhängigkeit zurück erhielt, proklamierte die nationale Regierung wenig später "die Wiederherstellung der Vorkriegsrepublik Lettland" - als Bürger dieses unabhängigen Staates wurden danach lediglich die Bewohner samt ihren Nachkommen anerkannt, die bereits vor der sowjetischen Okkupation 1940 dort lebten. Ein Drittel der Bevölkerung war damit über Nacht staatenlos. 1995 führte die Regierung für sie den Sonderstatus des "Nichtbürgers" ein.
Für den Gemeindevorsitzenden Astachov, einen dieser "Nichtbürger", eine klare Diskriminierung. Seine Eltern kamen kurze Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Lettland. Seinerzeit wurden gigantische Industrieanlagen gebaut. Um sie betreiben zu können, rief die Sowjetmacht aus allen Ecken des riesigen Reiches Arbeiter zusammen. Aus Russland, Belarus und der Ukraine kamen die meisten. Irgendwann waren sie in den lettischen Städten in der Überzahl.
Wer hätte vor elf Jahren geglaubt, dass die Kinder des mächtigen Russland in den einstigen baltischen "Schwester"-Republiken einmal als unerwünschte Fremde behandelt würden. Wer hätte gedacht, dass sie neben ihrer Muttersprache auch die Sprache des Landes beherrschen müssten, in dem sie wohnen. Und wer, dass ihre siegreiche Geschichte plötzlich anders interpretiert, ihre Helden als Verbrecher und ihre militärischen Befreiungsschläge als Okkupationen eingestuft würden.
Auf Druck des Westens sei die Industrie Lettlands inzwischen weitgehend abgewickelt worden, ist Astachov überzeugt. Tausende von Beschäftigten wurden arbeitslos, die meisten von ihnen keine Letten. "45 Jahre habe ich für dieses Land gearbeitet", regt sich ein älterer Russe auf. In der Hand hält er ein großes Schild mit der Forderung nach mehr Rechten für die russische Minderheit. Mit zehn Gleichgesinnten steht er vor dem Rigaer Bahnhof, um Unterschriften zu sammeln. "Ich kann wegen des diskriminierenden Umgangs mit meiner Nation keine lettische Staatsbürgerschaft bekommen. Dabei haben die Russen Jahrhunderte lang in Lettland gelebt ..." - "Bürger kann jeder werden", widerspricht ihm ein Lette. "Keiner hindert euch daran. Ihr aber seid unentschlossen, ihr schwankt immer zwischen Russland und Lettland." Auch Gozuljak weiß, dass er seinen "Alien-Pass" gegen ein lettisches Dokument umtauschen könnte. "Natürlich kann jeder von uns Bürger werden. Man muss sich nur naturalisieren." Das heißt, Prüfungen in der Landessprache sowie über die Verfassung und lettische Geschichte abzulegen. Letztere ist nach Ansicht Gozuljaks "mit Russophobie" durchtränkt. Außerdem müsse man die Hymne auswendig können und das Gelübde unterschreiben, Lettland treu zu dienen. Die Prozedur kostet umgerechnet 90 Mark, etwa ein Drittel des Monatsgehalts für Normalverdiener. Für Gozuljak kommt das alles ohnehin nicht in Frage: "Wenn ich das über mich ergehen lasse, bestätige ich ja indirekt meinen Status als Ausländer."
Natürlich brauchen auch Marktfrauen Sprachzertifikate
Lettland hat nicht vergessen, wie gewaltsam es einst mit der UdSSR verschweißt wurde. Über ein Drittel seiner Bevölkerung verlor das Land durch Emigration und Deportationen. Nur in der Hälfte aller Schulen in Lettland erhielten die lettischen Kinder bis 1990 eine Ausbildung in ihrer Muttersprache. Der Russischunterricht fing dort im zweiten Schuljahr an.
1992 verabschiedete die lettische Regierung das neue Sprachgesetz, und löste damit einen bitteren Aufschrei der Russisch sprechenden Bevölkerung aus. Die ehemalige Amtssprache wurde aus allen offiziellen Institutionen verbannt. Das Beherrschen des Lettischen wurde nun als unabdingbar für eine Arbeitsstelle vorausgesetzt. Für "Nichtbürger" waren Arbeiten auf der Verwaltungsebene wegen des Bürgergesetzes ohnehin tabu. Durch das Sprachgesetz wurde die Arbeit ohne Sprachzertifikat sogar in der Privatwirtschaft unmöglich. Selbst eine Markthändlerin muss es vorzeigen, wenn sie einen Gewerbeschein beantragt. Knapp 45 Prozent der lettischen Bevölkerung sprechen Russisch. So viele Ausländer habe kein europäisches Land, sagt Dzintra Hirs?a, die Leiterin des Staatlichen Zentrums der Lettischen Sprache. "Deswegen müssen unsere Entscheidungen von denen aller anderen europäischen Länder abweichen" antwortet sie auf das Drängen der OSZE, Sprach- und Bürgergesetze zu lockern. "40 Jahre lang haben sie in Lettland gelebt und können nicht einmal Guten Tag und Auf Wiedersehen in der Landessprache sagen!" Da kennt Hirs?a keine Gnade. 1992 wurde das Zentrum gegründet. Sogleich führte es im ganzen Land Sprachprüfungen ein, um sich ein Bild über die Kenntnisse der Bürger zu machen. Inzwischen gibt es drei Kategorien - wer als "Nichtbürger" in die dritte eingestuft sein will, muss Lettisch wie seine Muttersprache beherrschen. Nur dann darf man "verantwortungsvolle Ämter" bekleiden, etwa die Direktorenstelle einer Schule - für die Russen eine unerhörte Diskriminierung.
Noch vor 15 Jahren waren es die Letten, die nur mit Hilfe der Sprache des "großen Bruders" Karriere machen konnten. "Es war für uns lebenswichtig, die fremde Sprache zu lernen", erzählt der Abgeordnete der Rigaer Duma, Alexander Gilman. Seine Muttersprache ist russisch, da aber seine jüdischen Vorfahren bereits vor dem Krieg in Lettland lebten, hat er die Staatsbürgerschaft ohne Prüfung bekommen. Doch gebraucht er die Sprache des kleinen Landes nur, wenn er muss. Nach seiner Beobachtung gehorcht der Alltag in Riga dem gleichen Prinzip: "Wenn ein Russe mit einem Letten spricht, läuft das Gespräch fast nur auf Russisch."
Dzintra Hirs?a wurde 1947 in Sibirien geboren. Die Sowjetmacht deportierte ihre Eltern dorthin kurz vor dem deutschen Überfall 1941. Erst mit zehn lernte sie ihre wirkliche Heimat kennen. Heute ist sie wohl die unbeliebteste Person bei den nur Russisch Sprechenden. Ihrem Zentrum ist schließlich das Sprachgesetz zu verdanken.
Für Garold Astachov, den erwähnten Sprecher der russischen Gemeinde, resultieren die Antipathien gegenüber seiner Bevölkerungsgruppe nicht nur aus der jüngsten Vergangenheit: "Wir werden hier als fünfte Kolonne gesehen, die Gemeinde ist stark. Sie hat zehn eigene Banken. Das wird natürlich in dieser Pufferzone nicht gemocht, da wachsen erst recht Rachegedanken." Für die Russen war ihre Heimat zu Zeiten der Sowjetunion Kulturträger und Beschützer anderer Nationen und Völker. Die Letten sind vom Gegenteil überzeugt - aus ihrer Sicht sorgen die neuen Bürger- und Sprachgesetze für eine lang entbehrte Gerechtigkeit. "Russland tut in dieser Situation nichts, um uns zu unterstützen", wirft Gozuljak besonders der Moskauer Regierung vor, "wirtschaftliche Sanktionen gegen Lettland wären wünschenswert, besonders jetzt, da auch in russischen Schulen stufenweise Lettisch als Unterrichtssprache eingeführt wird."
2.000 Beschwerden seien in diesem Jahr bereits bei ihrem Sprachzentrum eingegangen, erzählt Dzintra Hirs?a. Die Bürger melden, wenn sie - zum Beispiel in einem Geschäft - auf Russisch bedient werden. Einer ihrer 18 Sprachinspektoren überprüft dann den Betrieb. Vier Männer und 14 Frauen seien ständig im Land unterwegs, oft nicht ohne Gefahr. Bei einem von ihnen soll in der Privatwohnung eine Bombe explodiert sein. Und geschlagen worden seien sie auch schon. Dass die lettische Sprache geschützt werden muss, steht auch für Hirs?as Landsmann Guntars Catlaks außer Frage. Seit 1999 arbeitet er bei einem Projekt der Soros-Foundation über die zweisprachige Ausbildung mit. "Es muss im Lande einen Mechanismus zur Nutzung der Sprachen geben", meint er. "Die erzwungene Umsetzung einer nationalen Politik durch Inspektoren, Gesetze und Überprüfungen erscheint allerdings undemokratisch und bürokratisch. Bevor man sie einfach verabschiedet, sollte nach gegenseitig vertretbaren Kompromissen gesucht werden." Bis die Gesellschaft reif für derlei Diskussionen ist, werden die Russisch Sprechenden weiterhin alles tun, die Verbote zu umgehen. Sie "besorgen" sich Sprachzertifikate, um arbeiten zu können. Sogar eine "richtige" Bürgerschaft kann sich ein "Alien" kaufen. Für knapp 300 Dollar ist sie von manch einem lettischen Beamten zu haben.
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