Für den totalen Sonntag!

Nahaufnahme Alles für alle: Am 2. Mai marschierte man in Prenzlauer Berg gegen die Arbeit

Es ist Samstag, die Maisonne wärmt den Kollwitzplatz, mein Kopf dröhnt von einer Pollenallergie, als ich diese Sprechchöre höre, die langsam lauter werden: „Wir haben Zeit, Wir haben Zeit!“ Banal eigentlich. Natürlich haben Menschen, die auf der Straße herumbrüllen „Wir haben Zeit“ Zeit.

Auf dem Senefelder Platz sehe ich sie dann: Ein Tross Menschen kommt auf mich zu. Eine Demonstration. Sind es die nimmermüden Überreste der gestrigen 1. Mai-Umzüge? Hut ab vor so viel Ausdauer! Ob gleich Steine fliegen und Tränengaswolken den Prenzlauer Berg durchwehen? Einen grimmigen schwarzen Block kann ich nicht ausmachen, nur ein großes Transparent an der Spitze des Zuges: „Kein Zwang zur Lohnarbeit“. Das ist es also: Diese Leute wollen nicht arbeiten, sie wollen Zeit. Dann passt es ja, dass sie den 1. Mai, den Tag der Arbeit, meiden. „Mein Freund ist Roboter“ ist auf einem Pappschild zu lesen. „Arbeit bäh!“ steht auf einem anderen. „Für den totalen Sonntag“, „Auch du koenntest arbeitslos sein“, „Abwrack­prämie fuer Arbeitsplätze“, „Grundeinkommen ist sexy“.

Gut, die Botschaft ist deutlich: Geld ja, Roboter ja, selbst arbeiten nein. Ich will jemanden fragen, was es mit diesem Grundeinkommen auf sich hat, das angeblich sexy macht. Wer weiß, wozu es mir nutzen kann. Menschen in Bademänteln schlurfen vorbei. Ich frage sie nicht. Auch ein paar junge Leute mit Nicht-zuständig-Aufnähern scheinen keine geeigneten Ansprechpartner zu sein. Da taucht ein Clown neben mir auf und drückt mir einen Zettel in die Hand: „Kleiner Berufstipp“, sagt er. Ich schaue auf das Papier: „Straßenlaterne“. „Was verdient man da?“, frage ich. Die Antwort geht in einem Tocotronic-Song unter. „Kapitulation“, schallt es aus Lautsprechern. Jemand ruft aus einem Wagen: „Wir haben Zeit.“ „Wir haben Zeit“, antworten etwa 300 Menschen.

Die Allergie und der Schwindel sind vergessen. Ich laufe mit. Die Atmosphäre ist angenehm: entspannte Polizisten, gut gelaunte Demonstranten, positive Parolen: Aus „Keine Macht für niemand“ wird „Alles für alle“. Am Rand stehen Menschen mit großen Sonnenbrillen und nippen wohlwollend an ihrer Biominze. Von einem Balkon werden wir mit Bonbons beworfen. Bei den Schönhauser-Allee-Arkaden kommt es schließlich zu einem fast religiösen Moment: Alle halten inne und lauschen einem Glatzköpfigen, den ich schon mal bei einer Lesebühne gesehen habe: Er spricht ein Gebet. Die Worte, sagt er, stammen von einem verstorbenen Lesebühnenkollegen, Michael Stein: „Arbeit, Geißel der Menschheit. Verflucht seist du bis ans Ende aller Tage. Du, die du uns Elend bringst und Not. Uns zu Krüppeln machst und zu Idioten. Und schlechte Laune schaffst und unnütz Zwietracht säst. Uns den Tag raubst und die Nacht. Verflucht seist du! Verflucht! In Ewigkeit. Amen.“

Jede Zeile wird laut von allen nachgebetet. Einkaufslustige kommen aus den Passagen und drehen rasch wieder um. Andere schauen interessiert herüber. Ein älterer Herr nickt und ruft laut am Ende „Amen“. Eine Frau stößt mich an: „Spürst du es? Das morphische Feld, das wir gerade geschaffen haben?“ Verflucht, denke ich. Die sind ja doch nicht so harmlos. Da ertönt auch schon eine ernste Rede: Macht, Besitz, Privilegien für die einen, das Joch der Niedriglohn-Arbeit für die anderen. Sie endet mit: „Der Kapitalismus hat viele Gesichter, alle sind Scheiße.“ Ohrenbetäubender Jubel bricht aus.

Vielleicht bin ich gerade Zeuge einer unwichtigen Albernheit am Rande des Universums. Aber irgendwie habe ich ein komisches Gefühl. Vielleicht ist es die Allergie.

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