Jüngst schrieb Josef Joffe, Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, angesichts der fortschreitenden Zerrüttung, den eines der dauerhaftesten Militärbündnisse der Geschichte aufweise, vom sich abzeichnenden »Ende einer wunderbaren Freundschaft«. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dem in den USA formierten Anhänger der sogenannten »Realistischen Schule« der Internationalen Politik, das berühmte Diktum seines Ziehvaters Henry Kissinger entfallen scheint, der einst prägnant formuliert hatte, Staaten besäßen keine Freunde, sondern Interessen.
Wie immer man auch über den ehemaligen US-Außenminister urteilen mag, sein Axiom jedenfalls weist auf den Dreh- und Angelpunkt jener Krise, in der sich die NATO derzei
h die NATO derzeit befindet. Denn seit die sedative Wirkung des Ost-West-Konfliktes verloren ging, prallen divergierende Interessen der Amerikaner und Europäer immer brüsker aufeinander. Die diesjährige »Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik« Anfang Februar ließ es gar berechtigt erscheinen, von Gegensätzen zu sprechen. Im Kern geht es um nichts Geringeres als die Frage, ob das »Alte Europa« angesichts des imperialen Anspruchs einer militärischen Hypermacht unter einer globalen Pax Americana zu leben gewillt ist - wie es die alten Griechen im Imperium Romanum ertragen mussten.Aufräumen, Patrouillieren, WachestehenDas atlantische Bündnis übte nach dem Kolossalverbrechen des 11. September 2001 »uneingeschränkte Solidarität« mit der NATO-Führungsmacht, indem es am 4. Oktober 2001 erstmals in seiner Geschichte den Bündnisfall nach Artikel V des NATO-Vertrages ausrief. Es schien seine Unentbehrlichkeit eindrucksvoll demonstriert zu haben. Doch weit gefehlt: Nachdem in der Allianz die politische Legitimationsgrundlage für den Anti-Terror-Krieg der USA formuliert worden war, erschöpfte sich deren praktische Unterstützung für die amerikanische Kriegführung gegen Afghanistan in der Entsendung einer Handvoll AWACS-Flugzeuge zur Überwachung des Luftraums über den Vereinigten Staaten. Diese sogenannte Operation Eagle Assist diente der vorübergehenden Entlastung von US-Kräften und endete bereits nach wenigen Monaten am 16. Mai 2002. Nicht die NATO also führte den Krieg gegen den Terror, sondern die USA bestimmten autonom Kriegsziele und Kriegsstrategie.Statt Einfluss und Mitsprache erhielten die europäischen Alliierten für ihre »uneingeschränkte Solidarität« gerade einmal ein höfliches Dankeschön. Schon im Verlauf der Münchner Sicherheitskonferenz 2002 wurde offenbar, dass die NATO aus amerikanischer Sicht auch in der turbulenten Post Cold War Period ihre Schuldigkeit getan hatte und sich in ihrer traditionellen Funktion als kollektive Verteidigungsallianz zusehends als überflüssig erwies. Wer die NATO als unverzichtbares Fundament der transatlantischen Beziehungen begriffen hatte, musste spätestens jetzt einen geradezu dramatischen Wandel zur Kenntnis nehmen.Aus Sicht der USA schwächte das Bündnis nämlich eher die eigene Handlungsfreiheit - die Prämisse für die Geostrategie des derzeitigen außenpolitischen Establishments der USA. Als präferabel erschien danach allenfalls eine NATO, die sich auf eine strategische Arbeitsteilung verpflichten ließ. Das Raster - Amerika bestimmt Ort und Zeitpunkt einer Militäraktion, rekrutiert eine Coalition of the Willings und führt den Krieg, wobei die Bündnispartner nur jenen Part übernehmen, den man sich von Fall zu Fall erbittet. Im Übrigen sollte Europa hinterher die Aufräumarbeit leisten - und das selbstredend allein finanzieren. Im Bündnis gewinnt so eine transatlantische Arbeitsteilung an Kontur, bei der Amerika in aller Welt gegen seine Feinde loszieht und die Europäer zum Patrouillieren und Wachestehen nachholt.Mit einem solchen Kalkül korrespondiert die veränderte Position der USA, wie sie während des Prager Gipfels im November mit Blick auf die zweite Erweiterungsrunde der NATO erkennbar wurde. Während Präsident Clinton noch in Phase eins der Osterweiterung die Zahl der Neumitglieder möglichst gering halten wollte, weil er sich um die militärische Effizienz des Bündnisses sorgte, verfolgt die jetzige Administration eine genau entgegengesetzte Politik. Für sie ist ein traditionell kollektives Verteidigungsbündnisses angesichts neuartiger Risikoszenarien obsolet. Attraktiver sind militärisch disponible Ad-hoc-Koalitionen, die auch Nichtmitglieder bis hin zu Russland im Kampf gegen den Terror oder die jeweils aktuellen »Schurkenstaaten« einbinden sollten. Das schließt die Option ein, die von Fall zu Fall disparaten Interessenlagen der europäischen Partner nach dem Motto »divide et impera« gegeneinander auszuspielen.Konfrontation, Kontroverse - KonsensDie jüngste Krise, als die Bush-Administration ihre NATO-Alliierten über den Hebel angeblicher Bündnisverpflichtungen gegenüber der Türkei dazu nötigte, sich an der Vorbereitung eines völkerrechtswidrigen Präventivkriegs gegen den Irak zu beteiligen, demonstrierte das Handlungsmuster der USA sehr nachdrücklich. Der hartnäckige Widerstand sowohl im UN-Sicherheitsrat als auch unter den meisten Regierungen gegen diesen Krieg führte zu der Dreistigkeit, den Bündnisfall für die Möglichkeit eines von den USA selbst provozierten Gegenangriffs zu reklamieren. Ein Missbrauch der Raison d´être der NATO als eines kollektiven Verteidigungsbündnisses, um einen Angriffskrieg strategisch abzuschirmen. Es ging bei der daraufhin von Frankreich, Belgien und Deutschland geführten Kontroverse nicht zuletzt um die Frage, ob innerhalb des Bündnisses künftig das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts gelten solle, und darum, in den Dienst welches der beiden vorgenannten Prinzipien sich die NATO fortan stellen wolle. Das Ergebnis der Konfrontation freilich bietet zum Optimismus keinen Anlass: Mit mehrheitlicher Zustimmung ist es der amerikanischen Hegemonialmacht letztlich doch gelungen, die NATO zu einer operativen Handlungsreserve willfähriger Vasallen zu degradieren.Unausweichlich zwingt diese Hybris imperialer Machtentfaltung Europa die Erkenntnis auf, dass der Kontinent nur dann eine eigene Zukunft hat, wenn er sich auf sich selbst besinnt. Ein symbolkräftiger erster Schritt in diese Zukunft könnte darin bestehen, dass Deutschland im Zeichen einer denkbaren deutsch-französisch-russischen Entente dem Vorbild Frankreichs aus dem Jahre 1966 folgt und sich aus der militärischen Integration der NATO zurückzieht. Nach jahrzehntelanger uneingeschränkter »Luftherrschaft« der »Atlantiker« auf dem Feld der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist die Zeit reif für eine »gaullistische« Wende der Berliner Republik.Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.