Fürsorge

Aktion Arbeitsscheu Reich Berliner Polizeipräsident verneigt sich vor den Opfern

Am 13. Juni 1938 verschleppten Kripobeamte und Gestapo Tausende von Menschen in die SS-Konzentrationslager - aus Arbeitshäusern, Obdachlosenasylen, von der Straße. Es lief die zweite Welle der "Aktion Arbeitsscheu Reich" - am Ende traf es 10.000 Menschen, so genannte "Asoziale" (s. Freitag 7/2008).

70 Jahre später, am 13. Juni 2008, verneigt sich Dieter Glietsch, Polizeipräsident von Berlin und Vorgesetzter der Kriminalpolizei, vor denen "die als ›Asoziale‹ stigmatisiert und damals polizeilich verfolgt wurden". Er steht vor dem ehemaligen Arbeitshaus in Berlin-Rummelsburg, damaliger Einsatzort der Kripo. 60 Bürger nehmen an einer Gedenkveranstaltung des Arbeitskreises Marginalisierte teil, die Hälfte in grüner Polizeiuniform, darunter 25 Polizeischüler und -schülerinnen. Sie lauschen dem 78-jährigen Bruno S., einem ehemaligen Heiminsassen, einem "Wegwerfkind", das der Nazi-Liquidierung nur zufällig entkam. In den Filmen von Werner Herzog spielt er Kaspar Hauser und Stroszek. Jetzt singt und musiziert er mit Glocken und Ziehharmonika, repräsentiert die Kultur der Ausgegrenzten.

Glietsch verurteilt die Festnahme und Deportation der ›Asozialen‹ als "legalisierten Staatsterror". Er erinnert daran, wie beschämend reibungslos sich die Kripo mit der Gestapo zur Sicherheitspolizei unter dem Kommando von SS-Obergruppenführer und General der Polizei, Reinhard Heydrich, "verreichlichen" ließ, und wie viele Kripoleute sich selbst gleichschalteten. Willfährig habe das von SS-Sturmbannführer Arthur Nebe geführte Reichskriminalpolizeiamt das rassistische Konzept der Kriminalprävention umgesetzt und mitgeholfen, den "Strom der schlechten Erbanlagen" durch "Ausmerzung von Volksschädlingen" zu unterbrechen. Aber auch schon vor 1933 seien die Demokratie und der Sozialstaat demontiert worden. Doch, so springt Glietsch mutig in die Gegenwart, "Berlin ist nicht Weimar!" Heute bekenne sich die Polizei zu Demokratie und Sozialstaat, und dies um so mehr, als ökonomische Prinzipien alles überformten. Zunehmend gelte nur das, was "effizient, nützlich und marktrelevant" sei; wer nicht mithalten könne, werde als "überflüssig und nutzlos" erklärt.

Man kann den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft daran bemessen, wie sie ihre Behinderten und jene behandelt, die nicht mithalten können oder sich abwenden. Dass sich ein Berliner Polizeipräsident explizit für die sozial Ausgegrenzten verantwortlich fühlt, ist schon bemerkenswert. Die Polizei habe hier eine "besondere Fürsorgepflicht", so Glietsch weiter. Er fordert eine entsprechende Ausbildung der Polizeischüler und verweist auf die Arbeit des Vereins "Polizisten für Obdachlose e.V.", der sich für die Belange der Marginalisierten engagiere. Die Polizei als Bollwerk des Sozialstaats!

Die Wirklichkeit allerdings ist schlimmer, als es die Polizei erlaubt. Derzeit werden die Pavillons des ehemaligen Rummelsburger Arbeitshauses "nach historischen Vorbild aufwändig rekonstruiert und instandgesetzt" - für "150 Wohnungen mit Denkmalabschreibung". Die Maruhn Immobilien GmbH verspricht: "Es entsteht ein Objekt in vollkommen neuem Glanz." Ein verdächtiger Glanz, der da aus der Vergangenheit herüberscheint.

Die Polizei verneigt sich vor den Opfern, daneben räkelt sich die saturierte Mittelschicht in deren edelsanierten Wohnstätten. Postmoderner Zynismus, aber auch eine Herausforderung für den Bezirk Lichtenberg: Er sollte wenigstens das Verwaltungsgebäude vor dem Zugriff der Investoren retten.

AK Marginalisierte: http://marginalisierte.de

Infos über Bruno S.: http://www.kreuzberger-chronik.de/chroniken/2007/oktober/mensch.html http://wikipedia.org/wiki/Städtisches_Arbeitshaus_Rummelsburg

Polizisten für Obachlose e.V.: www.pfo-berlin.de

Maruhn Immobilien GmbH www.BerlinCampus.com

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