A–Z Elon Musk will Weltraumreisen zum Geschäft machen und Juri Gagarin war nicht nur Sojusheld. Was ein Heizkörper mit Weltraumschrott zu tun hat: unser Lexikon
Absturz In seinem Raumschiff „Wostok 1“ hatte Juri Gagarin am 12. April 1961 in 108 Minuten die Erde umrundet – und stürzte im März 1968 mit einem Jagdflugzeug ab. Als Testpilot, dachte ich immer; für ihn musste es schon etwas Besonderes sein. Da die Umstände seines Todes – wie so vieles in der UdSSR – jahrzehntelang geheim gehalten wurden, schossen Spekulationen ins Kraut. Inzwischen weiß man, dass Gagarin eine ältere, an sich zuverlässige MiG-15UTI flog, die indes durch zwei Außentanks in ihrer Aerodynamik beeinträchtigt war. Auch könnte es zu Turbulenzen gekommen sein, weil gleichzeitig mehrere Abfangjäger SU-15 in der Luft waren. Gagarin aber hatte unter Aufsicht eines erfahren Piloten mehrere schwier
ufsicht eines erfahren Piloten mehrere schwierige Manöver zu üben. Wer hätte gedacht, dass der erste Mensch im All, dieser gefeierte Held (➝ Dahlie), als Jagdflieger noch eine Lehrzeit zu absolvieren hatte. Irmtraud GutschkeCCinque e Cinque Wer in Livorno Lust auf einen Snack hat, geht zu Gagarin (livornesisch: Gagarì). Der äußerlich nicht gerade einladende Laden am Markt der toskanischen Hafenstadt ist Kult, so wie die beleibte Signora, die einem mürrisch das Kichererbsen-Sandwich in die Hand drückt. Ein Kunde soll in den 1960er Jahren eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Betreiber und dem sowjetischen Raumfahrer entdeckt haben, seither hieß er für alle nur noch „Gagarì“ – und seine Frau „Gagarina“. Mittlerweile führen die Söhne den Laden, am Rezept der „Torta“ ändern sie nichts: Es handelt sich um einen sehr dünnen, schmackhaften Teig mit nur wenigen Zutaten: Kichererbsenmehl, Erdnussöl, Wasser, Salz. Der in Livorno verwendete Name Cinque e Cinque stammt von früher, als man 5-Cent-Torte und 5-Cent-Brot erwarb (cinque centesimi di torta e cinque centesimi di pane). Die Torta di Ceci wird in eine aufgeschnittene Ciabatta gelegt – auch für Veganer eine Köstlichkeit.Dazu trinkt man in Livorno Spuma – oder Bier. Maxi Leinkauf DDahlie Der kleine Prinz hatte seine Rose samt Planeten. Für Juri Gagarin sollte es eine Dahlie sein. Die spezielle Züchtung einer Erfurter Gartenbaufirma wurde 1963 von Gagarin höchstpersönlich auf den Namen Gagarin-Dahlie getauft. Während im Moskauer Botanischen Garten mehrere Arten an den Raumfahrtpionier erinnern, ist es die einzige deutsche Pflanze mit dieser Mission. Lange galt die Blume mit den blutroten Blüten als verschollen. Dass sie ausgerechnet aus Erfurt stammt, ist kein Zufall. Die Stadt des Gartenbaus hält eine besondere Beziehung zu dem Kosmonauten. 1963 machte er auf seiner DDR-Reise zusammen mit Valentina Tereschkowa auch in Erfurt Station, wo den historischen Bildern zufolge eine Menschenmenge die beiden bejubelte. Der Innenstadt-Ring, der die City prägt, wurde nach dem Kosmonauten benannt. Am Juri-Gagarin-Ring hat Sigmund Jähn (➝ Morgenröthe-Rautenkranz) dann später eine Büste mit markigem Gagarin-Konterfei eingeweiht. Die Gagarin-Dahlie kann man dieses Jahr auf der Bundesgartenschau in Erfurt sehen. Ein Exemplar der mehr als 40 Jahre verschwunden geglaubten Pflanze ist nach einem Zeitungsaufruf im Garten einer Erfurterin entdeckt worden und konnte nachgezüchtet werden. Tobias PrüwerGGrößenwahn Die Weltraumpläne von Elon Musk (➝ Zeitgeist) sind ambitioniert – oder größenwahnsinnig. Der zweitreichste Mann der Welt hat die Vision einer „multiplanetaren Menschheit“. Das Motto seiner Weltraumfirma SpaceX: bis zum Mars „und darüber hinaus“. Bislang muss der Multimilliardär sich jedoch mit weit weniger zufrieden geben. Seit 2019 baut SpaceX in Texas Raumschiffe, die über 100 Tonnen zwischen den Planeten transportieren können sollen. Viele Raketenteile sind recycelbar.Doch bei allen Testläufen explodierten die Raketen, zuletzt Prototyp SN11 Ende März. Trotzdem soll eine im Sommer die Erdumlaufbahn umrunden. Solange seine Raketen nicht ohne Explosion starten und landen können, bleibt die „multiplanetare Menschheit“ jedoch nur Musks größenwahnsinnige Fantasie. Ben MendelsonHHassa al-Mansuri Ich nehme meine Tasche und packe ... Dieses Spiel brachte mich auch schon vor meiner geistigen Altwerdung an den Rand der kognitiven Leistungsgrenze. Der erste arabische Astronaut konnte bei seinem Debüt ganze zehn Kilogramm ins All mitnehmen, in das er 2019 von Gagarins Weltraumbahnhof Baikonur abhob. Hassa al-Mansuri entschied sich für die Flagge seines Landes, heimatliche Speisen (für den Kulturaustausch) und fotografische Erinnerungen an die Gründerväter der Vereinigten Arabischen Emirate. Jan C. BehmannMMorgenröthe-Rautenkranz Die aufgehende Sonne trägt dieser sächsische Ort im Wappen. Unter einem besseren Stern konnte Sigmund Jähn (1937 – 2019) nicht geboren worden sein. Der gelernte Buchdrucker und NVA-Pilot wurde an der Militärakademie der Luftstreitkräfte „J. A. Gagarin“ bei Moskau weiter ausgebildet, bevor er ins All abhob. Im August 1978 flog er als erster deutscher Kosmonaut zur Raumstation Saljut 6. Dort umkreiste er 125-mal die Erde und führte Experimente durch. Nach der Wende arbeitete Jähn als Berater der European Space Agency und vermittelte die Zusammenarbeit mit seinen russischen Kollegen. Als Held (➝ Narbe) wollte er nicht gefeiert werden, der Mann, den im Osten jeder, im Westen viele nicht kennen. Tobias PrüwerNNarbe In einem anderen Land würde man den Vorfall als „typische #MeToo-Geschichte“ überschreiben. Die Narbe über dem linken Auge, die in Gagarins Gesicht nur wenige Monate nach seinem Weltraumflug erschien und dem berühmten Lächeln etwas von seinem Charme nahm – sie war nicht zu übersehen. Verschiedene Erklärungen kursierten, die eines gemein hatten: Sie ließen den Helden in bestem Licht erscheinen. Er sei gestolpert, als er seine Tochter auffangen wollte; er habe sich mit Betrunkenen geprügelt, um eine Frau zu verteidigen; als er einen Jungen vorm Ertrinken gerettet habe, habe ihn eine Welle dumm erwischt .. Dreißig Jahre später kam heraus, was tatsächlich vorgefallen war: Während einer Kur auf der Krim war Gagarin eines Abends ins Zimmer einer Krankenschwester eingedrungen und hatte die junge Frau belästigt. Als er dann die eigene Ehefrau an der Tür klopfen hörte, war der offenbar angetrunkene Kosmonaut aus dem ersten Stock vom Balkon gesprungen und aufs Gesicht gefallen. Barbara SchweizerhofOOrbit Der Orbit, auf dem Gagarin um die Erde flog, ist auch Schauplatz der Science-Fiction-Literatur. Elf Jahre vor Gagarin schickt der exzentrische SF-Autor Kurt Vonnegut in der Story Tannosphere einen Menschen in die Umlaufbahn, dem dort geheimnisvolle Stimmen zuflüstern. Im Orbit, wo Wissenschaft und Kalte-Kriegs-Feindabwehr betrieben werden sollen, driften verstorbene Seelen umher, wie sich herausstellt. In Philip K. Dicks „Nach der Bombe“ hängt ein Mann in einer Raumkapsel im Orbit fest, ohne Chance auf Rückkehr zur Erde, aber er sendet von dort Programm. Den Worten und der Musik dieses DJs in der Umlaufbahn namens Walt Dangerfield lauschen die Menschen auf der postapokalyptischen Erde gebannt nach einem Atomkrieg. Und verloren auf der Umlaufbahn ist auch Astronautin Janice Trumball in Jonathan Lethems Chronic City, nach der sich ihr Verlobter verzehrt, während ihre Liebesbriefe an ihn in der New York Times abgedruckt werden. Der Gagarin-Orbit ist in der SF Grenze ins Fantastische – und Sehnsuchtsort. Florian SchmidSSputnikschock Während die westliche Welt im Herbst 1957 in Weltraumschockaktionismus verfällt, erlebt die Heldin in Christian Berkels autobiografischem Roman Ada im Westberliner Weltinnenraum des Kalten Kriegs ihren ganz eigenen Sputnikschock. Berkel erzählt die Geschichte seiner Kindheit aus der Perspektive seiner fiktiven großen Schwester, der zwölf Jahre älteren Ada, die ihr Brüderchen konsequent „Sputnik“ nennt, weil sein Auftauchen ein paar Tage nach dem sowjetischen Satelliten für Ada einen ähnlich großen Schock bedeutet wie Sputnik 1 für die Weltpolitik: in ihrem Fall das abrupte Ende der Kindheit. Endgültig „zur Frau“ wird Ada dann zwar nicht am Tag von Juri Gagarins erstem Weltraumflug im April 1961, dafür aber nur wenige Monate später, am Tag des Mauerbaus. Nach zahlreichen weiteren Forrest-Gump-Momenten – Schah-Demo, Woodstock – ist es der Tag des Mauerfalls im November 1989, als Ada ihren Sputnik zum ersten Mal nach langer, ja, Funkstille wiedersieht. Nach diesem erneuten Schock hat sie nun endlich die Kraft, sich in Therapie zu begeben und ihre Geschichte aufzuschreiben.Der Autor umkreist seine eigene Geschichte hier gleichsam nur aus der Ferne, indem er seine (fiktive!) Schwester ins Zentrum stellt. Eine Fortsetzung steht allerdings aus. Ob „Sputnik“ Berkel dann (nachdem der erste Teil der Trilogie, Der Apfelbaum, vor allem von den Eltern handelte) endlich selbst ins Zentrum seiner Erzählung rückt? Tom WohlfarthWWeltraumschrott Es war der erste heiße Tag des Jahres und ich schickte einen Mitarbeiter zum Wertstoffhof. Doch genauso wie die ersten Sonnenstrahlen die Waschstraßen füllen, ist das gute Wetter wohl Anlass, mal so richtig auszumisten. Weil man den Müll besser sieht? Stau vor dem Wertstoffhof. Es funktioniert vielleicht wie das Aktionspotenzial. Ein Freund von mir nannte es das „Heizkörperprinzip“. Jahrelang hatte er einen alten Heizkörper im Keller und dann dauerte es keine zehn Minuten und das Ding war entsorgt (damals aber ohne Stau). Mit dem Weltraumschrott verhält es sich etwas anders. Zu welchem Wertstoffhof (vulgo: Müllkippe) soll man denn da fahren beziehungsweise fliegen? Über unseren Köpfen fliegen rund 8.500 Tonnen Schrott (u. a. gecrashte Satelliten) ganz schwerelos herum. Nur schlappe hundert Jahre werden sie brauchen, um in der Atmosphäre zu verglühen. Vielleicht hätte der Freund mit dem Heizkörper einfach warten sollen? Ich rufe ihn an, er wohnt mittlerweile auch im Himmel. Jan C. BehmannZZeitgeist Das waren andere Zeiten, als der Sowjetbürger Juri Gagarin die Erde umkreiste. Er habe dort oben keinen Gott gefunden, soll er gesagt haben (man hat es ihm wohl in den Mund gelegt). Das ließen die US-Amerikaner nicht so stehen; die ersten, die den Mond von der Rückseite sahen, lasen abwechselnd aus der Bibel vor, wie Gott die Welt erschuf. Der französische Philosoph Emmanuel Levinas würdigte indes, dass Gagarin sich von der Anbetung der Erde gelöst habe, um gegen heidnische „Schutzgeister des Ortes“ zu demonstrieren – gegen Heidegger. Heute baut der US-Milliardär Elon Musk Reisen um den Mond als Zweig der Touristik auf. Aus dem Gotteskomplex ist ein banales Geschäft geworden. Michael Jäger
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