Galerie versteinerter Schreckensbilder

Im Gespräch Der amerikanische Psychoanalytiker Dori Laub über die schweigenden Zeugen des Holocaust und neuere Ansätze in der Traumaforschung

Ende der siebziger Jahre fingen der Psychoanalytiker und Psychiater Dori Laub und die mittlerweile verstorbene Dokumentarfilmerin Laurel Vlock als erste an, Holocaust-Überlebende in psychoanalytischen Interviews zu befragen. Diese Zeugnisse, von denen mittlerweile über 4.000 existieren, sind im Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Universität Yale einzusehen. Dori Laub, der die Traumaforschung über Überlebende des Holocaust maßgeblich weiter entwickelt hat, ist Professor an der Yale Universität und war dort einige Jahre Direktor der Genocide Studies. Nun geht Laub, der selbst als Kind mit seiner Mutter die Shoa überlebte, noch weiter. Seit 2002 befragt er in Israel Überlebende, die dort zum Teil seit Jahrzehnten in Psychiatrien untergebracht sind. Seine Forschungsergebnisse über Traumatische Psychose - Narrative Formen schweigender Zeugen hat er kürzlich erstmals ausführlich auch in der Bundesrepublik, unter andrem vor der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP), vorgestellt.

Freitag: Bereits die früheren Videozeugnisse, in denen Überlebende von ihren Erfahrungen berichten, üben einen eigentümlichen Sog aus. Sie bezeugen den Holocaust, überlassen die Zuschauerin aber auch hilfloser Trauer. Sie, Herr Laub, plädieren seit langem für eine engere Zusammenarbeit von Psychoanalyse und historischer Forschung.
Dori Laub: Die Psychoanalyse eröffnet eine weitere Perspektive zum historischen Verständnis. Das persönliche Zeugnis kann puren Daten einen Kontext geben, oft sogar zum einzigen oder wichtigsten Zugriff auf ein Ereignis werden. In jedem Fall aber hilft der psychoanalytische Zugriff, die Präsenz des Irrationalen und des Unbewussten in vermeintlich rationalen Handlungen der Täter zu erkennen.

Warum ist es so wichtig für die Betroffenen, Zeugnis abzugeben?
Während des Erlebens eines massiven äußeren Traumas, wenn beispielsweise jemand dem Scharfrichter gegenübertritt, hört die innere emphatische Dyade, das interne für grundlegende Bedürfnisse ansprechbare Du auf zu existieren, mit dem ein Dialog möglich ist. Die Überlebenden haben insgesamt lange geschwiegen, infolge innerer Sprachlosigkeit. Viele haben ihr Schweigen nie gebrochen. Die Verarbeitung eines solchen massiven Traumas ist auch nicht möglich. Doch im Ablegen des Zeugnisses können Überlebende wieder Zugänge zu ihrer Geschichte finden, auch wenn Teile davon für immer verkapselt bleiben werden. Die Abgründe sind kalt und leer, wüten in den Menschen, sie sind gefährlich, haben keine durch Sprache erfassbare Form. Diese Teile der Geschichte der Überlebenden, die auch Teil der gesellschaftlichen Geschichte sind, haben wir bereits an das Schweigen verloren. Voraussetzung ist ein Sicherheit spendender Ort. Kommt der Prozess einmal in Gang, wirkt das wie ein Wasserfall, die Menschen gehen noch einmal zurück, beispielsweise in die Trauer um die verlorenen Menschen. Was wir in schweren traumatischen Wirbelstürmen antreffen, sind geistig nicht verarbeitete Fragmente, die zeitlos in der Luft hängen und daher ständig präsent sind. Sie werden zu Dingen, losgelösten Formen, bizarren Träumen, Neologismen und vor allem zu wiederholten idiosynkratischen Inszenierungen. Besonders dramatisch ist das für die psychiatrisierten Menschen, die die nicht integrierbaren Bruchstücke nicht einfach beiseite legen können. Die Repräsentationen ihrer inneren Welt sind weitgehend zusammengebrochen. Wenn eine Erfahrung zu extrem ist, wird die Fähigkeit zu begreifen, zu registrieren, zu wissen, aufzunehmen und sie zu erinnern weitgehend behindert. Für den klinischen Beobachter ist es, als würde eine Galerie versteinerter Schreckensbilder bestehen bleiben. Das Entsetzen vor dem Ausmaß der Katastrophe behindert die kognitive Verarbeitung. Doch die versteinerten Bilder warten darauf, belebt zu werden.

In der Bundesrepublik Deutschland wird immer häufiger der Wunsch laut, den Holocaust nach 60 Jahren zu historisieren. Warum heilt die Zeit das Trauma der Überlebenden und das ihrer Kinder nicht?
Noch heute leiden viele unter posttraumatischen Belastungsstörungen, viele berichten sogar über die Zunahme von Symptomen im hohen Alter. Wenn ein massives psychisches Trauma nicht bearbeitet wird, kann es der gesamten Repräsentation von Realität auch in verschiedenen Generationen Kontur und Farbe verleihen. Es wird zu einem unbewusst organisierenden Prinzip, hinterlassen von den Eltern, internalisiert durch die Kinder. Das Trauma tendiert zur Ahistorizität. Wenn es sich manifestiert, bedarf es mehrerer Generationen, um es zu verarbeiten.

Sie stammen aus Czernowitz, Ihre Muttersprache ist Deutsch, Sie sind häufig in der Bundesrepublik, sind mit der bundesdeutschen Psychoanalyse vertraut. Warum nehmen die Folgen des Holocaust noch heute einen geringen Stellenwert innerhalb der Psychiatrie aber auch der Psychoanalyse ein?
Bis weit in die siebziger Jahre hinein war die einschlägige Gutachter-Industrie in Deutschland oft von Ärzten bestimmt, die zuvor in der NS-Psychiatrie gearbeitet hatten und am Horror der Nazis beteiligt waren. Diese Ärztegeneration hat später noch mit Standards für Gutachten in Entschädigungsprozessen gesetzt. Viele Klagen Überlebender wegen psychischer Spätfolgen wurden abgewiesen. Eine große Ausnahme waren Alexander und Margarete Mitscherlich, die beschreiben, was Verdrängen und Verleugnen des Holocaust, die "Unfähigkeit zu Trauern", anrichtet. Doch die Schriften fanden in der Psychiatrie kaum Beachtung und auch nur sehr bedingt in der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Ausbildung und Behandlung. Viele Angehörige dieser Berufsgruppen sind nicht offen für die Schrecken des NS-Terrors und deren Folgen für beide Seiten, also auch für die Täter.

Wie sah der Umgang mit psychiatrisierten Überlebenden in Israel aus? Sie haben 26 Patienten in zwei Kliniken in der Nähe von Tel Aviv untersucht, interviewt und behandelt. Was hat Sie zu dem Projekt veranlasst?
In der israelischen Presse erschienen in den neunziger Jahren einige Artikel über den relativ hohen Anteil von Überlebenden unter psychiatrischen Langzeitpatienten und -patientinnen. Zudem hielt sich hartnäckig ein Gerücht, wonach Anfang der fünfziger Jahre ein Schiff mit 1.500 psychiatrisch erkrankten Überlebenden aus Deutschland nach Israel gekommen sein soll. Es stimmte, auch Zahlungen der damaligen Bundesregierung an Israel waren erfolgt. Und ich erfuhr, dass niemand diese Menschen bisher befragt hatte. In meinen Interviews mit Überlebenden ohne psychiatrische Erkrankungen hatte ich immer wieder für Momente die extreme Sprachlosigkeit in Bezug auf das Trauma erfahren. Hier wollte ich weiter gehen, mehr über das durch Terror erzeugte Extreme wissen.

Warum sind auch in israelischen Psychiatrien viele Überlebende mit Schizophrenie diagnostiziert worden? Warum findet sich so wenig über deren Lebensgeschichte in den Klinikakten?
Als junger Arzt habe ich ein Jahr lang in einer israelischen Psychiatrie gearbeitet. Ich erinnere noch einen dekompensierten Überlebenden in der Aufnahme. Der Akte war zu entnehmen: Er kam seit Jahren, immer in einem bestimmten Monat. Niemand hat aber nach seinen schmerzhaften Erlebnissen gefragt. Auch der damalige Eichmann-Prozess hat den psychiatrischen Diskurs nicht beeinflusst. Selbst in Israel lebten Überlebende im toten Winkel der Gesellschaft, wenn auch aus anderen Gründen. Viele Erkrankte sind nie als Überlebende behandelt worden. Wahrscheinlich geschah dies aus der Furcht heraus, im Zusammensein mit ihnen auch in sich schauen, den Schrecken zulassen zu müssen. Wenige riskierten das damals. Wenn man diese Patienten dann medikamentiert, sind sie stumm, die Ärzte nicht gefordert, ihre eigenen Ängste zu erfahren. Viele dieser Überlebenden sind auch in Israel vorschnell mit Elektroschocks, Insulinschocks und ähnlichem behandelt worden. Anfang der neunziger Jahre wurde diese Behandlung als Skandal öffentlich. Noch 1999 waren von den 5.000 Langzeitpatienten mindestens 725 Überlebende des Holocaust. Einige Krankenhäuser haben mittlerweile spezielle Abteilungen. Von vielen wurde angenommen, sie hätten für immer aufgegeben, mit anderen zu kommunizieren, sich für immer in ihre psychotische Welt zurückgezogen. Ich wollte mehr über diese Menschen erfahren und über die Grenzen des Zeugnisablegens.

Sie haben in München mit einer Gruppe von Psychiatern und Analytikerinnen, darunter auch einige aus Israel und den USA, einige Fälle besonders intensiv diskutiert. Auffällig war die dichte Atmosphäre. Fast alle dieser gestandenen Praktiker und Praktikerinnen kämpften zeitweise mit den Tränen.
Wir haben uns sehr genau anhand der Videoaufzeichnungen angeschaut, wie diese Menschen mit ihrem inneren Sturm kämpfen. Traumatische Psychose bedeutet existentieller Verfall, und auch Zuschauer brauchen Kraft, um sich dem auszusetzen; auch ich als Interviewer brauche sie. Gleichzeitig fühlte ich mich, als wäre ich erwartet worden, als würde ich willkommen geheißen zu einer Wiedervereinigung mit jemandem, der sehr, sehr lange gewartet hatte. Ich war tief gerührt, fühlte mich hineingezogen in die Intensität dieses Willkommens und auch in den Schmerz der Einsamkeit und des Verlusts. Die andere Seite der Medaille ist meine eigene Erfahrung des Entsetzens, wenn ich versuche, mich ihrem Schrecken zu nähern und mein Drang, davor zu fliehen, woanders hinzuschauen. Meine Reaktion auf ihre zersplitterte und gebrochene Sprache, auf ihr Verstummtsein war, sie zu beruhigen und ihnen implizit zu vermitteln: "Ich weiß, woran ich bei Ihnen bin, wovor Sie Angst haben, denn ich war auch dort. Ich werde versuchen, Sie zu beschützen." Die Kolleginnen und Kollegen in München waren sehr emphatisch, sehr unterstützend. Wir konnten sehr genau darüber sprechen, was "traumatische Psychose" ausmacht. Und wir haben auch darüber gesprochen, wie wir als Behandelnde immer wieder Mut brauchen, in uns etwas finden zu wollen, womit wir dem Überlebenden ein Stück voraus gehen können, um das, was noch da ist, vielleicht zu halten helfen, zu systematisieren.

Besonders beeindruckend ist das Schicksal eines Überlebenden, den Sie Gideon nennen. Anfang der dreißiger Jahre in einem osteuropäischen Land geboren, verlor er während der Nazi-Zeit seinen Vater. Die Mutter brachte ihn 1942 in ein Kloster, wo er drei Jahre lang überlebte, ohne emotionale Verbindungen, innerlich völlig auf sich gestellt, immer in Gefahr, als jüdischer Junge entdeckt zu werden. Als Zeuge hat er das tägliche Treiben der SS in der kleinen Stadt, aber auch einen Partisanenaufstand beobachtet. Nach dem Krieg fand er die Mutter wieder, ging jedoch noch sehr jung allein nach Israel. Dort hat er in einem Kibbuz gearbeitet, geheiratet, war dann Schauspieler.
Mit der Schauspielerei ist es ihm für einige Jahre gelungen, Distanz von seinem inneren Sturm zu gewinnen. Durch die Fähigkeit, auf der Bühne der Realität einen Rahmen, ihr also begrenzten Eingang zu geben, konnte er auch seinen Schock verbannen. Mit 29 Jahren ging dann auch seine zweite Ehe in die Brüche, und er sah die Mutter erstmals nach 14 Jahren wieder. Er ist dann zusammengebrochen, hat sich in Tel Aviv in einen Bus gesetzt und ist ins Spital gefahren. Dort ging er hin, wie er früher ins Kloster gegangen ist, um den Sturm zu beenden, dem Tod zu entfliehen. Er war viele Jahre lang akut suizidal. Im Interview beschrieb er seinen Zustand jedoch mehrfach mit "Gleichmut oder Ausgeglichenheit". Die Ausradierung der Familie, besonders den Verlust des Vaters, erinnert er nicht, auch nicht die unendliche Verlassenheit und Gefahr, in der er als Kind war. In seinem Narrativ "Gleichmut", geschaffen von einem begabten Künstler, hatte er seine Rolle, sich damit in die Kategorie jener Überlebenden eingereiht, die weder in der Lage noch willens sind, ihrem bitteren inneren Verlust ins Auge zu sehen. Auch er versucht das Hereinschauen, aber er zeigt uns auch Grenzen. Wahrscheinlich sind die Bildfragmente, die er sieht, zu zerstört. Sein Gesicht zeigt jedoch seinen tiefen Schmerz. Er hat in der Klinik die Rolle übernommen, zu helfen, auch mir half er, indem er mir ein Interview gab. Wie im Kloster will er niemanden belasten. Gideon hatte in den letzten Jahren eine Vertraute, eine Krankenschwester, der er sich so weit zugewandt hatte, wie es ihm nur irgend möglich war. Letztes Jahr ist sie in Pension gegangen. Kurze Zeit später ist Gideon gestorben.

Welche Folgen hatte das Projekt für den Krankenhausalltag?
Wir haben die Patienten und Patientinnen ausführlich zuvor untersucht, sie auch fünf Monate später Tests unterzogen, weitere Gespräche geführt und mit einer Kontrollgruppe verglichen. Die psychotischen Beschwerden bleiben, doch posttraumatische Belastungsstörungen haben bei 50 Prozent der Befragten signifikant abgenommen. Auch die Atmosphäre hat sich verändert. Das Personal kennt nun die Lebensgeschichten, verhält sich anders, behandelt anders, spricht anders mit den Menschen.

Warum sind gerade auch diese Zeugnisse von schwer kranken Überlebenden wichtig, in einer Zeit, in der permanent nach dem Schlussstrich gerufen wird?
Der Terror, den diese Überlebenden bezeugen, ist real, keine Fiktion. Wir haben es nicht mit Geschichten aus Grimms Märchen zu tun, die uns eine Weile gruseln, dann aber doch einschlafen lassen. Diese Zeugnisse können uns helfen, unsere Abwehr gegenüber Verlusten durch Terror und Krieg aufzulösen. Wir können nach dieser Erfahrung unsere Perspektive auf die Welt, die innere und die äußere, neu ausbalancieren. Diese Überlebenden bezeugen die Wahrheit des Holocaust, aber auch, wie sie im Inneren immer noch unter Belagerung stehen. Sie führen uns an die Abgründe, zeigen uns das ganze Ausmaß des Naziterrors. Am Beispiel von Gideon können wir sehen, wie er bereits als ungeschütztes Kind vom menschlichen Diskurs abgeschnitten worden ist. In der Hilflosigkeit, nicht mehr symbolisieren zu können, auf keine Metaphern mehr zurückgreifen zu können, erkennen wir die Destruktion und nehmen doch gleichzeitig die Gefühle dieser Menschen wahr. Als Mediziner können wir zeigen: Auch diese Schwerkranken lassen sich erreichen. Erst wenn wir sie wirklich erreichen, können wir sie auch behandeln. Und über unseren eigenen Schmerz können wir an eine eigene Wegscheide kommen: Nicht weiter unser Leben für Triviales zu verschwenden.

Das Gespräch führte Brigitta Huhnke


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