Geburtstag

Kehrseite Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meine Mutter zu bestrafen. An diesem Oktobertag waren wir zu spät aufgewacht. Mit ein paar hektischen ...

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meine Mutter zu bestrafen. An diesem Oktobertag waren wir zu spät aufgewacht. Mit ein paar hektischen Handgriffen hatte mich meine Mutter in die Kleider gestopft, danach in Anorak und Schuhe und stöhnend aufs Fahrrad gehievt. Schweigend strampelte sie mit mir die Straße entlang. Im Kindergarten hauchte sie mir kaum einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Schon fühlte ich ihre Hand in meinem Rücken, die mich sanft in den Raum schob. Ihre loseilenden Schritte verhallten im Flur. Ich stand trotzend im Türrahmen, als mit weit geöffneten Armen die Erzieherin auf mich zukam, strahlte und einladend rief: "Nun komm, setz´ dich auf deinen Platz. Wir feiern heute Geburtstag."

Und tatsächlich: Auf den Tischen lagen die dunkelgrünen Tischdecken, die jedes Mal zu diesem Anlass hervorgeholt wurden. Gewöhnlich erkannte man die Geburtstagskinder schnell an den Plastikblumenkränzen, die sie auf dem Kopf tragen durften, je nachdem hellblau oder rosa. Ich konnte auf den ersten Blick kein Kind mit diesem Schmuck entdecken. Dafür sah ich die Blumen auf den Tischen, auf dem der Erzieherin sogar eine Kerze. Von den Regalen baumelten Luftballons und Fähnchen. Die Kinder saßen vor Kuchenbergen, und auch ich, obwohl ich zu spät gekommen war, bekam noch ein großes Stück.

Ich liebte solche besonderen Tage und stimmte laut in das Lied ein, das mir wegen des knallenden Kusses, der darin vorkommt, so gut gefiel. Das Geburtstagskind würde schon irgendwann durch die Tür treten ... Doch es kam nicht, und obwohl der Tag sehr heiter war, beschäftigte mich diese Frage zunehmend. Immer wieder hörte ich einen Namen, der wahrscheinlich mit unserem Fest im Zusammenhang stand, wenn nicht sogar der Name des Geburtstagskindes selbst war. Doch er war zu kompliziert, um ihn zu behalten. Auch hatte ich keine Ahnung, ob sich ein Mädchen oder ein Junge dahinter verbarg.

Darüber vergaß ich meinen morgendlichen Ärger. Wieder zu Hause, erzählte ich meiner Mutter den Tag, und sie stellte Fragen. Das ging eine Weile so, ohne dass es wirklich zu etwas führte, obwohl ich mir inzwischen immer sicherer war, dass dieses Kind ein Junge sein musste. Wir hatten uns Fotos von neuen Häusern angesehen, und immer wieder war gesagt worden, wie stolz wir sein konnten. Vielleicht hatte er ja den Bauarbeitern geholfen.

Plötzlich lächelte meine Mutter: "Hieß der Junge vielleicht Republik?"

"Ja!" rief ich, kennst du ihn etwa auch?

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden