Wirklich überrascht war Kali Balcerowiak nicht, als sie die neuen Arbeitslosenzahlen vom März hörte. Ohnehin seien die Zahlen "frisiert", zu niedrig, weil etliche Betroffene trickreich herausgerechnet würden. Was die 55-jährige Berlinerin jeden Monat aufs Neue aufregt, ist die Wortwahl der Arbeitsagentur: "Arbeitslosigkeit - der Begriff ist einfach falsch. Es gibt viel Arbeit in unserem Land. Und es gibt genug Geld, diese zu bezahlen", sagt Balcerowiak. Aber das wolle offenbar niemand. Wie könne es sonst sein, dass Milliarden an Fördermitteln für die Eingliederung von Arbeitslosen nicht ausgeschöpft werden?
Es war eine Sitzung des Bundestages, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde: Am 16. Februar, kurz nach 22 Uhr, ging es vor fa
es vor fast leerem Haus um die Arbeitslosigkeit - also jenes Thema, das über 80 Prozent der Deutschen als drängendstes Problem der Zeit empfinden. Im vorletzten Punkt der Tagesordnung wurde über den so genannten "Eingliederungstitel" gesprochen: Fördergelder, mit deren Hilfe Arbeitssuchende in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen - zum Beispiel in Form von Lohnkostenzuschüssen oder Fortbildungen. Dafür hat der Bundestag jede Menge Geld zur Verfügung gestellt: 2005 wurden 6,35 Milliarden Euro veranschlagt, jedoch nur rund 57 Prozent davon tatsächlich ausgegeben. "Es sind also 2,8 Milliarden Euro im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verloren gegangen", beklagte sich darüber die Abgeordnete Sabine Zimmermann von der Linksfraktion. Sie stellte daher den Antrag, den gesetzlich möglichen Teil von rund einer Milliarde Euro ins Jahr 2006 zu übernehmen. "So ein Quatsch", kommentierte dies der CDU-Abgeordnete Wolfgang Meckelburg. Ähnlich sah auch die Abstimmung aus: Alle Fraktionen (mit Ausnahme der Linken) stimmten gegen den Antrag. Unter anderem mit der Begründung, dass die Arbeitsagentur einen "riesigen Umbau" leisten müsste, so Andrea Nahles (SPD). Für 2006 seien zudem 7,1 Milliarden Euro angesetzt, also mehr als im Vorjahr.Kali Balcerowiak tröstet das wenig. Wenn sie daran denkt, wieviel Geld im Bundeshaushaltsloch verschwunden ist, wird die wortgewandte Arbeitslosengeld-II-Empfängerin sauer - denn sie hätte mit einem Bruchteil des Geldes viel anfangen können: "Arbeitsmarkt von unten" heißt ihr Konzept, das bezahlte Stellen für kommunale Arbeit vorsieht. Danach können sich Erwerbslose bei einer zu gründenden Anlaufstelle in ihrem Stadtteil melden und vorschlagen, in welcher Form sie im kommunalen Bereich tätig sein möchten. Das Team von "Arbeitsmarkt von unten" vergleicht die Angaben mit Bedürfnissen im Kiez und sorgt für einen sinnvollen Einsatz der Teilnehmer. Das Ganze hat allerdings nichts mit Freiwilligenagenturen zu tun, sondern wird regulär bezahlt: Bei einer 20- bis 28-Stunden-Woche sollen im Monat rund 900 Euro netto fließen. Finanziert durch staatliche Fördermittel, jedoch kostenneutral, wie Balcerowiaks ausgerechnet hat: Statt über ALG II und zugehörige Mittel würde das Projekt pauschal finanziert und selbst organisiert. Doch anders als etwa bei den Ein-Euro-Jobs ändere sich der Status der Betroffenen. Aus Arbeitslosen würden Erwerbstätige, wovon die Betroffenen profitieren könnten, die endlich wieder ein Gehalt für sinnvolle Arbeit bekämen - "sie kommen raus aus der Mühle" - und zugleich das gesellschaftliche Zusammenleben profitieren würde.Denn die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig: Balcerowiak denkt zum Beispiel an Nähkurse, Wertevermittlung für Vorschulkinder, Ernährungsberatung oder Seniorenbetreuung. Arbeit gebe es jedenfalls genug, das sehe sie jeden Tag in ihrem Kiez in Berlin-Moabit, einem Stadtteil mit vielen Problemen. Ein Blick aus dem Fenster ihrer kleinen Wohnung reicht, um das festzustellen: Im benachbarten Schulhof ist der Anteil der Migrantenkinder hoch. Integrations- und Jugendarbeit ist gefragt - ein mögliches Einsatzgebiet für die Teilnehmer ihres Projektes: "Das ist Arbeit, die getan werden muss, wenn wir die Qualität unseres Zusammenlebens erhalten wollen." Was im Kiez an Aktivitäten angeboten wird, hänge aber letztlich von den Teilnehmern selbst ab: "Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt, nicht als bedürftiges Wesen, sondern mit Interessen, Fähigkeiten und Talenten. Momentan geht da so viel verloren."Balcerowiak kennt das Gefühl, wenn man plötzlich ohne Erwerbsarbeit dasteht: Ab Mitte der neunziger Jahre tat sie sich immer schwerer, als Heilpraktikerin genug Geld zu verdienen. Ende 1996 waren ihre Rücklagen aufgebraucht, sie beantragte Sozialhilfe. "Ich habe das anfangs gar nicht begreifen können." Inzwischen weiß sie: "Es kann jedem passieren, in diese fatale Situation zu kommen." Viele, gut ausgebildete Menschen habe sie in den vergangenen Jahren kennen gelernt, denen es genauso ergangen sei. Mit ihrem Arbeitslosengeld II komme sie "mit Hängen und Würgen" zurecht. Für den Lebensunterhalt reicht es, Kleidung kauft sie fast immer im Second-Hand-Laden - an Ausgehen ist kaum zu denken. Richtig eng werde es jedoch bei einem Paar Schuhen oder einer Fahrradreparatur.Das Klischee des Arbeitslosen, der zuhause in einer verwahrlosten Wohnung sitze und verschuldet sei, habe mit der Realität nicht viel zu tun, meint Balcerowiak. Im Gespräch beklagt sie sich über die Politik, die gerade erst anfange, "langsam ihre Hausaufgaben zu machen". Ihre Stimme bleibt dabei ruhig. Man brauche einen langen Atem und viel Geduld, bis sich eine Idee durchsetze. "Arbeitslosigkeit" kenne sie eigentlich gar nicht, durch den Kampf für ihr Projekt sei sie gut ausgelastet.Das Problem an ihrem Konzept ist, bis jetzt hat sich niemand gefunden, der es finanziert. Dabei wäre es - gemessen an den verloren gegangenen Fördermitteln - ein geringer Betrag: Pro Jahr koste es eine Million Euro, 50 Arbeitsplätze zu finanzieren, so Balcerowiak. Mit den ungenutzten 2,8 Eingliederungs-Milliarden könnte man nach diesem Modell also auf einen Schlag 140.000 Arbeitslose zu Erwerbstätigen machen. Und da die Arbeit vor Ort organisiert werde, entstünden kaum Verwaltungskosten. Wenigstens drei Jahre würde Balcerowiak das Projekt gern betreiben, um feststellen zu können, ob es funktioniert: "Das Pilotprojekt soll wissenschaftlich begleitet werden, um zu zeigen, dass es tatsächlich etwas bringt." Seit 2002 versucht Balcerowiak, das Projekt ins Laufen zu bringen. Potenzielle Teilnehmer hat sie übers Internet (www.arbeitsmarkt-von-unten.de) bereits gefunden.Dass sie noch nicht aufgegeben hat, ist auch Leuten geschuldet, die ihr Mut machen. Zu ihnen zählt Peter Grottian, Politikwissenschaftler an der FU Berlin. Er sieht im "Arbeitsmarkt von unten" ein gutes Beispiel. Dass es mit der Finanzierung bislang noch nicht geklappt hat, sei Vorbehalten bei Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften geschuldet: "Bei diesem Projekt überlässt man es den Menschen selbst, einen sinnvollen Arbeitsplatz zu finden - für viele ist das hochdubios." Doch die Chancen für das Projekt würden steigen, meint Grottian. Er rechnet damit, dass der Bundesregierung im Mai oder Juni ein strengerer Wind entgegen weht, wenn offenkundig wird, dass sich der Arbeitsmarkt nicht deutlich entspannt. Die Strategie der Koalition "Wachstum schafft Arbeitsplätze" werde nicht aufgehen, so Grottian. Alternative Ideen hätten in einer solchen Situation wieder bessere Aussichten.Dass auf dem ersten Arbeitsmarkt auch in Zukunft nicht genügend Arbeitsplätze geschaffen werden können, steht auch für Balcerowiak fest: "Wer heute noch von einer möglichen Rückkehr zur Vollbeschäftigung spricht, der lügt." Die Politik müsse die Gesellschaft auf diese Veränderung vorbereiten, nach neuen Wegen suchen, Menschen zur Erwerbsarbeit zu verhelfen - wenn nötig, im zweiten, also staatlich geförderten Arbeitsmarkt: "Nur so können wir ihnen ihre Angst nehmen und ihre Würde wiedergeben."
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