Den Angriff auf die Krim-Brücke hat Russland mit einem massiven Vergeltungsschlag gegen die Ukraine beantwortet. Mehr als nur ein Indiz dafür, wie sehr die Risiken dieses Krieges nicht nur wachsen, sondern immer weniger beherrschbar sind. Dies gilt für alle denkbaren Eskalationsszenarien und alarmiert in einem Augenblick, da sich die Kuba-Krise zwischen den USA und der Sowjetunion als gefährlichster Moment in der Geschichte des Kalten Krieges zum 60. Mal jährt. Es war im Oktober 1962, als die Welt schon einmal in den Abgrund eines Nuklearkrieges zwischen Großmächten sah. Auf dem Spiel stand das Leben von Millionen Menschen, wenn nicht die Existenz der Menschheit. Das nukleare Säbelrasseln Wladimir Putins und die Kriegsdynamik in der Ukraine drohen si
sich gerade in eine ähnliche Richtung zu entwickeln. Statt Wege aus der Gefahr zu erkunden, diskutieren Experten in USA und EU darüber, wie man auf einen möglichen Einsatz taktischer Nuklearwaffen reagieren könnte. So als wäre der bereits eingepreist.In seiner Rede zur Teilmobilmachung am 21. September, kurz vor der Annexion ukrainischer Gebiete, sagte Putin: Sollten die USA die territoriale Integrität Russlands bedrohen, würden „alle zur Verfügung stehenden Mittel“ genutzt. „Das ist kein Bluff.“ Die USA reagierten öffentlich mit einer scharfen Warnung vor den „katastrophalen Folgen“, worauf Ex-Präsident Dmitri Medwedew das Recht Moskaus auf einen Atomwaffeneinsatz betonte, „wenn das notwendig sein sollte“, etwa bei einem existenzbedrohenden konventionellen Angriff auf Russland. Dank westlicher Waffen errungene Fronterfolge der Ukraine könnten als Angriff auf russisches Territorium interpretiert werden. Diese Eskalationsspirale erinnert in ihrer Zuspitzung fatal an die Kuba-Krise. Auch damals ging es um Einflusszonen und nukleare Bedrohungen.Nach dem Sieg der Kubanischen Revolution verloren die USA ihren Klienten Kuba und versuchten vergeblich, die mit der Sowjetunion verbündete Regierung Fidel Castros zu stürzen. Moskau lieferte in einer Geheimaktion atomare Mittelstreckenraketen. Nach deren Entdeckung forderten die Hardliner in den USA eine Intervention, die etwas Moderateren setzten eine Blockade durch. Im Kern ging es um die Frage, ob die USA sowjetische Nuklearwaffen in ihrem „Hinterhof“ akzeptieren würden. Die UdSSR wollte die Unabhängigkeit ihres neuen Verbündeten sichern, der 1961 eine CIA-geführte Landungsoperation von Exilkubanern in der Schweinebucht abgewehrt hatte und weiter unter Invasionsdrohung stand. Zudem strebte Moskau strategische Parität mit Washington an, das 1959 nukleare Mittelstreckenraketen in der Türkei stationiert hatte, von denen die Sowjetunion erreicht werden konnte.Kurz bevor die Kuba-Krise zu kulminieren drohte, einigten sich John F. Kennedys Bruder Robert und der sowjetische Botschafter Anatoli Dobrynin bei einem Geheimtreffen auf einen Kompromiss. Die USA sprachen für Kuba eine Nichtangriffsgarantie aus, im Gegenzug zog die Sowjetunion ihre Atomwaffen ab. Überdies sicherte Washington zu, später seine in der Türkei stationierten Arsenale abzuziehen, erbat sich aber absolutes Stillschweigen darüber. Es wollte weder die europäischen Alliierten beunruhigen noch als nachgiebig erscheinen. Vor der Einigung hatte sich die Lage zugespitzt. Die US-Luftwaffe führte eine Serie von Kernwaffentests durch, worauf Moskau zwei Atomwaffen in der Atmosphäre zur Explosion brachte. Im Luftraum über Kuba wurde ein US-Aufklärungsflugzeug abgeschossen. Auf hoher See gerieten ein US-Zerstörer und ein sowjetisches Atom-U-Boot aneinander. Dessen Kapitän wollte einen Nukleartorpedo einsetzen, doch ein Offizier überzeugte ihn, dass die Amerikaner nicht angreifen wollten. So verhinderte er wohl einen Atomkrieg.Natürlich ist jeder Konflikt anders. Gleichwohl bietet die Kuba-Krise Lehren für heutige Entscheidungsträger. Erstens sollte man sich nicht darauf verlassen, dass ein Atomkrieg wie damals mit Glück zu verhindern ist. Zweitens bedeutet Krieg zwischen zwei Atommächten stets allergrößte Gefahr. Die USA sind zwar noch keine direkte Kriegspartei, drohen aber im Falle eines russischen Kernwaffeneinsatzes eine zu werden. Drittens müssen die Protagonisten USA und Russland zu einem Kompromiss bereit sein. Dazu gehört, die vitalen Sicherheitsinteressen des jeweils anderen angemessen zu berücksichtigen und unlösbar erscheinende Probleme wie Territorialstreitigkeiten zunächst auszuklammern. Viertens muss eine verlässliche und vertrauliche Kommunikation bis auf die höchste politische Ebene sichergestellt werden. Damals richteten die Supermächte mit dem „heißen Draht“ eine direkte Verbindung ein, um eine ungewollte Eskalation zu vermeiden. Derzeit soll die Kommunikation schlechter sein als im Kalten Krieg. Schließlich braucht es einen Stabilitätsrahmen. 1963 gab es den, indem man sich auf einen partiellen Atomteststopp in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser einigte. Eingebettet war all das in eine Entspannungspolitik, die den Wettbewerb der Systeme ermöglichte, aber ohne Krieg. Schon damals war klar: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter.Placeholder infobox-1