Gefährliches Provisorium

Irak Die neue Verfassung steht zur Disposition, bevor sie überhaupt in Kraft treten kann

Es ist die gleiche Entwicklung: Afghanistan hat einen Präsidenten und unter mehr oder minder offenem Druck aus Washington eine Verfassung erhalten. Das war zum Jahreswechsel 2003/2004, doch Ruhe und Stabilität sind am Hindukusch nicht eingekehrt.

Auch in Bagdad sind Präsident und Regierung installiert. Die Konstitution, mit mehrfacher Fristverlängerung fertig gestellt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit und offensichtlichen Abstimmungsmanipulationen angenommen worden. Ein Ende der Gewalt ist damit nicht verbunden, im Gegenteil: es gibt weiter Anschläge und Kämpfe mit den US-Streitkräften. Es gibt vor allem eine - auch den Defiziten des Verfassungsentwurfs geschuldete - eskalierende Gewalt gegen Frauen. Tausende Morde, Vergewaltigungen und Folterungen für die "Ehre" der männlichen Familienoberhäupter gehören inzwischen zum irakischen Alltag. Dazu schweigen die internationalen Medien - zu sehr lässt sich an diesen Übergriffen und Exzessen vorzugsweise im schiitischen Süden, auf den sich die Besatzungsmächte stützen, der wirkliche Zustand des Landes nach der Invasion ablesen.

Im Irak wie in Afghanistan sind die USA mit ihren Vorstellungen einer von außen oktroyierten "Demokratisierung" gescheitert (die ohnehin nur das zynische Vehikel ihrer Vorherrschaftspolitik ist). Dabei sollte besonders für den Nahen Osten ein Exempel statuiert und das fortschrittlichste Land in Sachen Bürger- und Menschenrechte entstehen. Nur bedient die vorliegende Verfassung dieses Verlangen nicht im Geringsten. Sie wurde ohne Teilhabe der Bevölkerung und unter Ausschluss der vielen inzwischen vorhandenen zivilgesellschaftlichen und demokratischen Organisationen - ganz besonders der Frauenvereinigungen - geschrieben. Und dass es Condoleezza Rice war, die bereits einen Tag nach dem Referendum die Annahme dieses Grundgesetzes verkündete, als nur ein Bruchteil der abgegebenen Stimmen gezählt war, ist wohl bezeichnend.

Dabei war das Reglement dieses Referendums ohnehin umstritten. In einigen Regionen soll es mehr Ja-Voten als Wahlberechtigte gegeben haben. Die Nationale Wahlkommission sprach angesichts der Ungereimtheiten beschönigend von "widersprüchlichen Resultaten" und bat um mehr Zeit. Die Furcht, die Verfassung könnte durchfallen - sie hätte dazu in drei oder mehr Provinzen scheitern müssen -, war nur allzu berechtigt.

Die sunnitische Minderheit sah und sieht mit dem Verfassungstext ihre Rechte verletzt. Zu groß schien die Versuchung für Schiiten und Kurden, nicht nur ihre zahlenmäßige Überlegenheit auszuspielen, sondern auch die Konditionen für eine mögliche Sezession zu verbessern. Tatsächlich gibt die Konstitution den Regionalregierungen umfangreiche Kompetenzen auf legislativem, exekutivem und judikativem Gebiet. Das betrifft auch die Verfügung über Bodenschätze wie das Erdöl: Verwaltet werden sie von der Zentralregierung "in Zusammenarbeit mit den produzierenden Regionen und Provinzen"; der Gewinn aus ihrer Erschließung und Vermarktung soll entsprechend der Bevölkerungsdichte verteilt werden, konkrete Regelungen dafür fehlen. Die Sorge in den an natürlichen Ressourcen armen Provinzen mit mehrheitlich sunnitischer Bevölkerung, künftig das fünfte Rad am Wagen zu sein, scheint nicht unbegründet. Zumal die Verfassung ausdrücklich die Möglichkeit einer späteren Revision vorsieht. Das im Dezember zu wählende Parlament kann nochmals den Rotstift am Text ansetzen. Es ist in der Geschichte wohl ein seltener Fall, über ein Grundgesetz abzustimmen und es gleichzeitig zum Provisorium zu erklären.

Für die Besatzungsmächte geht es darum, endlich einen "Erfolg" im Irak vorzuweisen - auch, wenn sie selbst kaum noch Illusionen haben, dass Krieg und Bürgerkrieg sich ausdehnen. Die Iraker werden auf Frieden und Demokratie weiter warten müssen - trotz Verfassung. So kompliziert jede Lösung sein wird: Ohne ein Ende der Okkupation wird es keine geben.


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