Gefräßige Maschinen

"Großstadtjagd" Philipp Reeves Debütroman über Städte in Bewegung

Als der 15-jährige Tom die Vibrationen und den Sog der Beschleunigung wahrnimmt, weiß er sofort: Londons Maschinen haben Fahrt aufgenommen. Was nichts anderes bedeutet, als dass Beute in Sicht ist!

Tom lebt im London der fernen Zukunft. In seiner Welt sind Städte und Dörfer nicht mehr länger statische Ansammlungen von Gebäuden, sondern sich frei bewegende, mobile Plattformen, die quer über die ganze Welt sausen - und andere, kleinere und schwächere Siedlungen "fressen". "Fressen" bedeutet neues Baumaterial und frische Vorräte für das unersättliche London. Die Bewohner der einverleibten Siedlungen werden in das soziale Gefüge der Großstadt eingegliedert.

Tom ist ganz aus dem Häuschen: Jahrelang hatte sich London in den kargen Sumpflandschaften des einstigen Dartmoor verkrochen - und plötzlich geht es wieder auf die Jagd. Was Beine hat, eilt hinaus, um das Spektakel hautnah mitzuerleben. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes: Tom wird Zeuge, wie ein junges Mädchen den Vorsitzenden der Gilde der Historiker, Thaddeus Valentine, umbringen will und vereitelt die Tat. Die Attentäterin stürzt sich hinunter in den Abfallschacht, direkt unter die Räder der rasenden Stadt. Und bevor Tom weiß, wie ihm geschieht, stößt Valentine seinen nichts ahnenden Retter ebenfalls über die Reling, hinter dem Mädchen her!

Großstadtjagd, das Debüt von Philip Reeve, ist ein ungewöhnlicher Science-Fiction-Roman, der seine Inspiration aus Filmen der achtziger und neunziger Jahre bezieht. Eine Parabel auf den Darwinismus der Gesellschaft, gespickt mit Spannung und Action. Reeves zeichnet die Menschen als kollektives Raubtier. Nicht länger bewegen sich Einzelne in einem Fahrzeug von A nach B, um Beute zu machen oder ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sondern treten als eine in weiten Teilen jeglicher Individualität beraubte Gruppe auf, die ihren Erfolg an ihrer Stärke beziehungsweise an der Anzahl ihrer Gruppenmitglieder misst.

Der Mensch als alles verschlingendes Ungeheuer, gleichzeitig aber auch als Untergebener seiner eigenen Technik - beides ist in der utopischen Literatur nicht neu. Allerdings ist das Motiv der mobilen, fressenden Stadt auch bereits Realität: Städte, die sich immer mehr ausweiten und immer mehr kleine Randgemeinden "schlucken", sind die Vorläufer der finsteren Utopie dieses Romans.

Mit dem Absturz aus der rasenden Stadt beginnen für Tom und Hester die haarsträubenden Abenteuer erst. Wie durch ein Wunder überleben beide. Als sie von einer kleinen mobilen Siedlung aufgelesen werden, glauben sie sich gerettet. Doch statt dessen werden sie gefangen genommen, um als Sklaven verkauft zu werden. Mit Hilfe der Pilotin und Abenteuerin Anna Fang gelingt ihnen die Flucht in einem Luftschiff. Gemeinsam machen sie sich auf zum Stützpunkt Airhaven. In London kommen in der Zwischenzeit Valentines Tochter Katherine und der junge Bevis einer Verschwörung auf die Spur, an der sowohl Valentine als auch hochrangige Beamte Londons beteiligt sind. Es geht um eine Superwaffe, die noch aus der Zeit der letzten Kriege stammt, und die nun den Mächtigen der Stadt helfen soll, die Herrschaft über die Welt zu erlangen. Katherine und Bevis beschließen, den Plan zu vereiteln - und geraten dabei in tödliche Gefahr.

Großstadtjagd ist ein spannender, gut durchdachter, manchmal harter aber dabei konsequent erzählter Zukunftsroman, der bis zur letzten Seite fesselt. Reeves erzählt darin auch die Geschichte von vier ungewöhnlichen "Individualisten", die aus der Masse der Täter und Opfer herausragen. Vier junge Menschen, die durch Zufall zusammengewürfelt werden, sperrige, aufmüpfige Charaktere, die sich in dem unübersichtlichen Strudel zwischen Gut und Böse entscheiden müssen.

Philip Reeve: Großstadtjagd, aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt, Beltz, Weinheim 2003, 380 S., 14,90 EUR (ab 14)


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