Das Selbstverständnis vernünftiger Eltern sieht für den Nachwuchs vor: Kaum Fernsehen oder mindestens nie RTL 2, keine Computerspiele! Musikunterricht, Malen, Sport, die besten Bücher! Unbedingt! Damit Heranwachsende selber urteilen lernen, das Flache, das Massenprodukt, die Verdummung erkennen und nicht so viel davon schlucken, so viel, bis gar kein Platz für anderes mehr ist. Aber wer schafft das gegen die Flut der Angebote? Und dann die Zweifel, ob die erzwungene Abstinenz nicht vielleicht falsch ist und etwas verkennt?
Die Köpfe unserer Kinder sind voll von Produkten einer Unterhaltungsindustrie, die ihnen eine Welt neben der realen Welt erschafft, in der sie für Stunden, Tage, Wochen verschwinden. Das ist normal für Kinder. Wenn der Erwachsene ab
achsene aber versucht, ein Freund zu sein, sich dort zurechtfinden will und zum Beispiel fragt : "Warum ist es die Bestimmung des Yu-gi-oh, einen Pharao wieder zu erschaffen?" Dann gibt es meist bloß ein Achselzucken und Antwort wie: "Is so", eine selbstverständliche Anerkennung des Bestehenden. Wild erfundene Motive und Handlungen werden hingenommen ohne jedes warum und scheinbar ohne Bedürfnis zur Deutung.Als Erwachsener beschleicht einen bei der Betrachtung vieler Kinderfilme, Computerspiele und Sammelkartensysteme der Verdacht einer organisierten Gegenaufklärung: Ist es die berechtigte Widerspiegelung bestehender Verhältnisse, absichtliche Manipulation und Verfälschung oder einfach bedenkenloses, das Niveau minderndes Geschäftsinteresse? Werden da die Vorstellungskraft, die Geschichtsbilder und das ästhetische Urteilsvermögen nicht eher verbildet als ausgebildet? Das betrifft besonders die Verarbeitung von Mythologien und Märchenmotiven.Ja, die Unterhaltungs-Industrie hat ihre Wellen, die kommen und vergehen und werden keine Narben hinterlassen. Das ist möglich. Aber wird auch jener tiefe Brunnen gegraben, aus dem später der Erwachsene tröstlichen Sprachklang, poetische Bilder, gute Gefühle und Gedanken aus seiner Kindheit wieder heraufholen kann?Kinder zwischen acht und zwölf Jahren lernen inzwischen nicht mehr die drei Entwicklungsstufen der Pokemon-Arten, die mit Begriffen aus der Metamorphose spielen. Sie fuchteln auch nicht mehr mit dem Zauberstab durch die Zimmer, die lateinischen Brocken Harry Potters imitierend. Sie kauern lieber, wenn keiner es ihnen verbietet, vor dem Fernseher und lauschen den Angeber-Losungen sturer Duelle der japanischen Zeichentrick-Serie Yu-Gi-Oh. Ohne Schwierigkeiten merken sie sich die kompliziertesten Handlungsfolgen und nennen ganze Ketten von Kulturbegriffen, die aus ihrem Zusammenhang gerissen in diese Serien eingearbeitet wurde. Pegasus wird zu einem fast bösartigen Geist, Pharao gilt als gelöschte und neu zu erschaffende Macht. Eine Fülle von Zaubermitteln werden eingeführt, das Milleniums-Puzzle, der Milleniums-Stab. Immer ist die ganze Welt in höchster Gefahr, wird vernichtet und wieder erschaffen. Mythologische Bilder werden mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gemischt. Auch Kapitalismus-Grundkenntnisse spielen eine Rolle: In Yu-gi-oh gibt es einen Konzern, eine Corporation, von der man keinesfalls 51 Prozent Anteile aus der Hand geben darf, und die immerhin vom Helden Kaiba aus der Waffenproduktion in eine Monster-Kampfkarten-Produktion umgewandelt wird. Die digitale Welt als Gefängnis für lebendige Tote gibt es neben einer echten Unterwelt, in der wiederum die Sippe eines verräterischen Marek in ewiger Dunkelheit "gezeichnet" mit geheimnisvollen Zeichen auf ihre Befreiung hofft. Jedes Serienstück erläutert fünf Minuten lang Motive und Zusammenhänge, in den 25 verbleibenden Minuten werden Karten-Kampf-Duelle ausgetragen, ohne dass überhaupt Tugenden oder Taten wirklich gefragt sind. Yu-gi-oh hat seine Bestimmung, die Wiedereinrichtung einer (bis ins alte Ägypten?) zurückreichenden, gerechteren Ordnung. Kaiba steht in Konkurrenz, er muss also ständig in Duellen den "berufenen" Yu-gi-oh bekämpfen, ebenso kämpft in unzähligen Turnieren auch Marek, der Vatermörder und Aufständische, der "eine böse und eine gute Seite" hat. Er wird verachtet vom begabten und reichen Kaiba, bis ein Zusammenwirken der drei Gegner nötig wird. Es geht diesen Helden, die den Gewittern aus Drohungen, Blitzen und Fratzen mit ihrem "Deck" von Spielkarten standhalten, immer nur darum, den sich steigernden Phantasien von vorgestellten Qualen unerschrocken (cool?) gewachsen zu sein.Siegen heißt, sich von den enormen feindlichen "Kräfteströmen", die auf einen einwirken, nicht einschüchtern zu lassen. Die ganze Leistung schreiender, breitbeinig einander gegenüber stehender Spieler besteht darin, eine neue "Karte" aus ihrem "Deck" zu ziehen und einander damit "Lebenspunkte" zu rauben. Die Mega-Heroen dieser Serien haben oft mehrere Leben, sie können, wenn sie verloren haben, erlöst und wieder belebt werden. Ist das nicht das Bild des Söldners von heute, das überall als Drohkulisse aufgebaut wird und mit modernsten "Zaubermitteln" ausgestattet ist? Sterben wird ein anderer.Der kluge Kaiba kann Menschen in Karten verwandeln. Die sind dann wirklich tot. "Is so".Yu-gi-oh kommt als Film in die Kinos. Die Kinder sagen, dass die Fülle der Motive aus den Serien sich nicht in einen einzigen Film bannen ließe. Sehen wollen sie ihn aber doch. Verbunden mit der Serie ist bei vielen das Sammeln und Spielen mit den dazugehörigen Karten. Sehr beliebt sind die Magic-Karten. Man schützt seine Karten möglichst vor dem Zugriff der Erwachsenen, die fassungslos beobachten, wie die Sammler weder Hausaufgaben machen noch den Tisch decken können, ohne einige davon bei der Hand zu haben. Ich betrachte die "Decks". Tief enttäuscht sehen die Spieler mich an, wenn ich die ekligen Monster, gewalttätigen Schlächter oder kitschig leuchtenden Wüsten, Sümpfe und Felsen mit Abscheu betrachte und ihnen mit ironischem Ton die aufgedruckten Texte vorlese.Der ganze Himmel war in Wallung, dank des schwelenden Hasses der Avior auf die Kabbalisten...Der Talisman des Fortschritts fügt dir einen Schadenspunkt zu.Die Gläubigen werden durch Flüsse aus Flammen waten und rein hervortreten.Die Untoten mögen die Lebenden überdauern, aber diejenigen, die nie gelebt haben, werden älter als beide zusammen.Es gibt auch einen Zombie Centauer mit der Losung: For its minions, death is only a pause between duties.Das ist die reinste Gegenaufklärung, denke ich. Mythologische Bilder sind doch eigentlich schön und können Kinderphantasien erfüllen. In einem der Computerspiele hat man die Wahl zwischen den Götterwelten der Ägypter, der Griechen und der Wikinger. Es gibt da die Unterwelt des Hades, und Gott Poseidon ist ein Böser. Von Chronos droht Gefahr, der Verdammte könnte wieder befreit werden. Wieso machen das in diesem Spiel plötzlich Isis oder Thor?Ach, die Schönheiten und das Grauen alter Mythologien, der Ägypter, der Griechen und der Kelten werden empörend verwurstet, verlieren ihren Sinnzusammenhang und ihren in der Geschichte und Literatur verankerten Charakter, sie können nicht wieder erkannt und auf anderer Stufe gedeutet werden, es bleibt ein hohles Namensgeklingel übrig. Meist lernt man die Herkunft und den Sinnzusammenhang der Begriffe in diesen Spielen nicht. Die Sprache, die Namen werden nur aufgemischt und verwischt, oberflächlich, kitschig, verunklärend.Ja, das unheimlich und undeutlich Bedeutungsschwangere ist vielleicht eine angemessene Widerspiegelung heutiger Wirklichkeit, für die sich angeblich einfach keine klarere Deutung finden lässt. Filme, Serien, Spiele zu einer "Welterlösungs- oder Weltuntergangs-Problematik" entsprechen den neuen ökologischen und politischen Ängsten. Die Vermischung aller mythologischen Begriffe der ganzen Welt findet ihre Berechtigung als eine Form von Bildung durch Mythen-Globalisierung.Man fragt sich aber doch, warum dieser Boom der Mythologien als Spielfelder sich immer mehr entfaltet. Ist das alles nicht einfach die geschäftstüchtige Verwertung von Material, das der Unterhaltungsindustrie scheinbar unerschöpflich zur Verfügung steht? Und findet hier nicht eine gut bezahlte Verklitterung und Vermanschung aller großen Stoffe statt, um mit voller Absicht den Überblick über unterschiedliche Kulturen und Gesellschaften, den erreichten Stand der Aufklärung, das historische Bewusstsein zu löschen?
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