Zuerst kommt man nicht umhin, eine Selbstverständlichkeit festzustellen: „Den“ Islam gibt es nicht. Der Islam ist, wie auch die anderen großen Monotheismen, ein komplexes, heterogenes Gebilde. Eine Weltreligion, die von radikalem Fundamentalismus bis hin zu modern-liberalen Ausprägungen reicht, mit zahlreichen Strömungen, Denkschulen und exegetischen Ansätzen. Zu oft entsteht ein Zerrbild, das das Gegenteil suggeriert. Ein Zerrbild entsteht auch zwangsläufig, wenn man, wie Thilo Sarrazin, ohne jegliche fundierte Vorkenntnis eine Koranübersetzung liest. Aber es gibt ein Gegengift. All jene, die sich ernsthaft mit dem Thema Islam auseinandersetzen möchten, finden eine Vielzahl an Büchern von Islamwissenschaftlern, von Autoren, die das
as Sujet nicht nur studiert, sondern auch die islamisch geprägten Länder und Weltregionen bereist haben. Kurz: von Autoren, die seriös und professionell arbeiten.Natürlich muss, wer seine Kenntnis vertiefen möchte, den Koran lesen. Ohne eine solide Wissensbasis gestaltet sich das allerdings schwierig. Daher sei zur Einführung ein Standardwerk empfohlen. In Die Religion des Islam führt die renommierte Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922 – 2003), die in Harvard lehrte, in die Grundzüge der Religion ein und ergänzt dies durch einen fundierten Abriss historischer Einordnung. Sodann sollte man sich Hartmut Bobzin widmen, der in der Reihe C. H. Beck Wissen die beiden Bände Mohammed und Der Koran – Eine Einführung publiziert hat. Die Kombination aus beiden Büchern schafft einen Grundlage, um die spätere Koranlektüre besser einordnen zu können, während man Leben und Wirken des Propheten im Hinterkopf hat – sowie den zeithistorischen Background der Entstehung der Heiligen Schrift der Muslime.Ergänzend dazu sei Gerhard Schweizers unlängst in überarbeiteter Neuauflage erschienenes Buch Islam verstehen empfohlen, das seinen Schwerpunkt auf historische Fakten legt und die Begebenheiten in mehreren islamisch geprägten Ländern beleuchtet. Schweizer schreibt mit großer Sachkenntnis, dabei durchaus unterhaltsam. Es gelingt ihm, komplizierte Zusammenhänge greifbar zu machen. Spätestens hier sollte der interessierte Leser seine Lektüre durch das Kleine Islam-Lexikon ergänzen. Das kenntnisreiche Nachschlagewerk ist ein kompetenter Begleiter und hilft mit seinen über 400 Artikeln, Fragen und Begrifflichkeiten zu klären: Was ist ein Ayatollah, was ein Hadith? Wer war Muhammad Iqbal oder Ali Shariati? Was ist der Unterschied zwischen Aleviten und Alawiten?Scharia, was ist das eigentlich?Dass der Koran – nicht anders als die Bibel – Passagen enthält, die aus heutiger Perspektive höchst problematisch sind, versteht sich von selbst. Dabei hilft es, zu wissen, dass eine fundamentalistische Auslegung und wortgetreue Anwendung des Textes nicht mal den absolut rückwärtsgewandten Radikalen gelingt. So ungern sie es zugeben, auch ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu interpretieren. Zu sehr kollidiert der Text sonst mit ihrer Lebensrealität. So ist auch die Vollverschleierung bloß eine Interpretation, und eine abenteuerliche noch dazu. Aus dem Koran lässt sie sich auch mit großer Mühe nicht ableiten. Überhaupt datieren zahlreiche Eigenheiten und Bräuche, die heute allgemein als islamisch verstanden werden, in vorislamische Zeiten zurück und basieren oft auf Traditionen, die mit der Religion wenig bis nichts zu tun haben. Tatsächlich hat der Islam mit vielen solchen Traditionen gebrochen oder sie reformiert, weshalb er im Kontext seiner Zeit gelesen durchaus als fortschrittlich gelten kann. Wer sich nun allerdings dafür interessiert, wie die radikalen Islamisten den Koran lesen und welche Passagen sie sich zur Untermauerung ihrer Verbrechen herauspicken, welche Verse sie aus dem Kontext reißen (wofür sie von seriösen muslimischen Theologen regelmäßig heftig angegangen werden), der findet Ansätze in Gewalt und Islam. Das Buch ist ein Gespräch, das der syrische Dichter Adonis mit der Psychoanalytikerin Houria Abdelouahed geführt hat. Obwohl Adonis eine explizit antireligiöse Haltung zeigt und den Islam selbst oft auf die radikalen Elemente reduziert, liefert er doch einen Blick hinter die Kulissen des Islamismus und nimmt dabei auch die Scharia ins Visier.Apropos Scharia: Was ist das eigentlich? Den Bedenkenträgern hierzulande gilt sie als archaisches Rechtssystem, vor dem der „besorgte Bürger“ panisch warnt. Ist das berechtigt? Dieser Frage geht der Rechtshistoriker Sadakat Kadri in seinem Buch Himmel auf Erden. Eine Reise auf den Spuren der Scharia durch die Wüsten des alten Arabien zu den Straßen der muslimischen Moderne nach. Dabei kann der Leser nicht nur seine Kenntnisse über Koran, Islam und Geschichte vertiefen, sondern sich neben einer Vielzahl an interessanten historischen wie aktuellen Beispielen auch mit der Problematik auseinandersetzen, dass Religionen wie Gesetzeswerke vielschichtig und immer in erster Linie davon abhängig sind, wer sie anwendet. Beim Stichwort Scharia denkt man sofort an Steinigungen und das Abhacken der Hand von Dieben. Tatsächlich lässt sich das islamische Recht keineswegs auf solche aus heutiger Sicht barbarische Rachejustiz reduzieren, zumal es im Laufe von 1400 Jahren einen langen Entwicklungsweg hinter sich hat.Placeholder infobox-1Und das mit der Interpretation ist auch wichtig, wenn man sich mit der im Westen weitverbreiteten Auffassung befasst, der Islam habe keine Aufklärung erlebt und sei genau deshalb rückständig. Um es mal vorsichtig zu formulieren: Das stimmt nicht so ganz. Durchaus hat es in den islamischen Ländern Aufklärungsbewegungen gegeben, die stellenweise beachtlichen Einfluss erlangten und zumindest in Teilen von der westlichen Aufklärung inspiriert waren. Einen genauen Blick darauf wirft Christopher de Bellaigue in seinem Buch Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft am Beispiel der Metropolen Istanbul, Teheran und Kairo in den letzten 250 Jahren. Rasch wird klar, dass es der Westen selbst war, der diese Bewegungen abzuwürgen half, indem er in vielen Ländern die nachvollziehbare Frage aufkommen ließ: Warum sollen wir Errungenschaften und Werte von Leuten übernehmen, die wie die Barbaren in unsere Länder einfallen? Die nach innen Menschenrechte und Demokratie predigen, sie im Ausland aber monetären und geostrategischen Interessen opfern? Es war diese Doppelmoral, die früh zum Hindernis wurde – und daran hat sich bis heute wenig geändert. Dass darüber hinaus die Kolonialisten unter anderem das Gift des Nationalismus und die christlich verbrämte Homophobie im Gepäck hatten, führte auch nicht dazu, die fortschrittlich Orientierten zu unterstützen – im Gegenteil. Spätestens hier wird deutlich, dass man, wenn man etwas über den Islam lernen möchte, auch bereit sein muss, die eigene Position zu hinterfragen und sich an einigen Stellen von festgefügten und lieb gewonnenen Ansichten und Überzeugungen zu verabschieden. Wer dazu in der Lage ist, der wagt vielleicht den Sprung mitten hinein in die muslimische Lebens- und Erfahrungswelt und greift zu Ilija Trojanows Zu den heiligen Quellen des Islam. Als Pilger nach Mekka und Medina. 2003 nahm der bulgarische Schriftsteller, der als Flüchtling nach Deutschland kam, an der Pilgerfahrt ins Herz des Islam teil – offen und mit neugierigem Blick sammelte er Erfahrungen, begegnete Menschen, verstand Riten und Glaubensperspektiven, näherte sich dem vermeintlich Fremden an.Placeholder infobox-2Placeholder authorbio-1
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